Die Netflixserie "Stranger Things" sorgte dafür, dass das Rollenspiel "Dungeons & Dragons" wieder zum Trend wurde.

Foto: Netflix

Ich bin ein hässlicher kleiner Rattenmensch, der in der Gosse lebt, stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und dafür auch gerne mal seine Freunde im Stich lässt. Nein, natürlich nicht im echten Leben, sondern in einem Brettspiel namens Gloomhaven. Im Gegensatz zu diversen Partybrettspielen wie Activity und Tabu richtet sich Gloomhaven an Menschen, die Spiele als einen Lebensinhalt betrachten – und viel Zeit mitbringen: Die zehn Kilo schwere Box ist gefüllt mit Spielplänen, Figuren, Miniaturgegenständen und Anleitungen, die durchforstet werden müssen.

Und obwohl Gloomhaven wie ein Brettspiel aussieht, erinnert es vom Prinzip her mehr an die sogenannten Pen-and-Paper-Rollenspiele, die es seit den 1980er-Jahren gibt. Dabei hat jeder Mitspieler einen eigenen Spielcharakter mit bestimmten Eigenschaften, die sich im Lauf des Spiels verbessern lassen; gemeinsam verfolgt man eine Geschichte und löst knifflige Aufgaben.

Das Geschehen spielt sich dabei – anders als in Filmen oder Computerspielen – nicht auf einem Bildschirm, sondern allein in der Fantasie der Mitspieler ab. Die zweite Besonderheit dieses Hobbys ist, dass man nicht gegeneinander, sondern gemeinsam gegen einen imaginären Gegner spielt – sei es der Hexenmeister, der Zombies beschwört, oder der feuerspeiende Drache. Koordiniert wird das Geschehen von einem Spielleiter, der bedeutungsschwer als "Meister" bezeichnet wird.

Würfel und Spielfiguren dienen als Hilfestellung für die Abenteuer im Kopf.
Foto: Curtis Brown/Netflix

Mit meinem Faible bin ich nicht alleine. Unter anderem ließ die Netflix-Serie Stranger Things das Hobby wieder zum Trend werden. Gleich in der ersten Folge sitzen die Nerd-Jungs bei einer Runde Dungeons & Dragons – eines der beliebtesten Rollenspiele – beisammen. Und dass auch die STANDARD-Community mit Begeisterung dabei ist, zeigte ein Gametalk, den wir Ende vergangenen Jahres online veranstaltet haben: Auf die Frage "Welche Pen-and-Paper-Rollenspiele spielen Sie?" antworteten die Userinnen und User in knapp 500 Kommentaren, dass sie diesem Hobby inzwischen teilweise 30 Jahre frönen. Gespielt wird neben dem bereits erwähnten Dungeons & Dragons unter anderem das aus Deutschland stammende Das Schwarze Auge oder das Cyberpunk-Rollenspiel Shadowrun.

Auch zu beliebten popkulturellen Franchises wie Star Wars gibt es eigene Pen-and-Paper-Rollenspiele, bei denen man selbst den Todesstern zerstört, anstatt dies auf der Leinwand zu beobachten.

Ein Nekromant in der Bank

"Ich habe dank des Rollenspiels auch viel gelernt, da man viele Situationen durchlebt und erlebt", schreibt ein User mit dem Pseudonym "Labiotic": "Man muss Reden halten, Leute überzeugen, Pläne schmieden, Intrigen aufdecken. Ja, Rollenspiel mit einem guten Meister und netten Mitspielern wird niemals langweilig."

Der "Tabletop Simulator" ermöglicht, Brettspiele auch virtuell zusammen zu spielen. Das ist in Zeiten der Pandemie ganz nett, aber nicht das Gleiche wie ein echtes Treffen.
Foto: Berserk Games, Cool Mini or Not

Dass die Offline-Spiele somit teils einen ganz anderen Reiz ausüben als Computerspiele, obwohl diese dem Spieler die Vorbereitung und das Fantasieren abnehmen, indem sie in beeindruckender Grafik epische Geschichten erzählen, weiß auch Eugen Pfister. Er ist Historiker und Politikwissenschafter an der Hochschule der Künste in Bern und erforscht unter anderem die Ideengeschichte von Spielen. "PC-Spiele und Pen-and-Paper-Spiele erfüllen unterschiedliche Bedürfnisse, denn bei P&P steht oft das Laienschauspiel im Vordergrund", sagt er: So wird der Bankangestellte für einen Abend zum Nekromanten, der Wissenschafter zum Barbaren. Alles ist möglich, was die Fantasie und der Spielleiter zulassen.

Viel früher als Computerspiele haben Brettspiele begonnen, das gemeinsame Lösen von Problemen in den Vordergrund zu stellen. "Dem neoliberalen Narrativ, dass eine bessere Welt entsteht, wenn sich der Stärkste durchsetzt, steht das Konzept entgegen, mit unterschiedlichen Interessen gemeinsam Probleme zu lösen", sagt Pfister. In komplexen Situationen hält man zusammen und unterstützt sich – ein Schlachtruf, der in Zeiten der Pandemie aktueller ist als je zuvor.

Nazis und Kolonialherren

Die Fantasywelten bilden meist eine popkulturelle Wahrnehmung der Geschichte ab. So sind viele Welten im Mittelalter beziehungsweise in der Renaissance angesiedelt, Franchises wie das Kartenspiel Magic: The Gathering machten Ausflüge ins alte Ägypten oder in die Welt der Piraten.

Diese Referenzen laufen jedoch nicht immer friktionsfrei. So ist Amazons Online-Fantasyrollenspiel New World zwar offiziell in einer fiktiven Welt angesiedelt, referenziert mit dem Setting aus Siedlern im Dschungel einer Südseeinsel aber verstärkt auf die blutige Kolonialzeit – wohl aber mit dem Unterschied, dass die Spieler keine Einheimischen, sondern seelenlose Zombiepiraten abschlachten.

Einen Eklat gab es wiederum bei einem Turnier rund um das Science-Fiction-Spiel Warhammer 40.000, bei dem manche Spieler mit Symbolen aus dem Dritten Reich auftraten. Der Veranstalter verurteilte dieses Verhalten zwar, ist jedoch selbst nicht ganz unschuldig: Denn auch im Originalsetting geht es um ein Imperium, das in einer weit entfernten Zukunft grausam regiert – und auf Elemente wie einen Reichsadler und die Existenz eines starken Führers setzt. "Es ist also sympathisch, dass die Organisatoren derartiges unterbinden wollen", sagt Pfister: "Aber sie müssten zuerst mit ihrer eigenen Geschichte anfangen."

Wer dieses Hobby liebt, der investiert sogar Stunden in Basteleien – wie etwa in diese Spielfiguren aus dem 3D-Drucker.
Foto: Der Standard/Stefan Mey

Wer sich mit solchen Problemen nicht plagen möchte oder mit dem historisch oft inakkuraten Wiederkäuen der Geschichte unzufrieden ist, der kann selbst Hand anlegen. So ist es üblich, dass Spielleiter die Geschichten teils selbst schreiben: Als Jugendliche haben wir etwa das Epos der Drachenlanze-Romane in die Welt von Das Schwarze Auge übertragen und nachgespielt. Das waren zig Stunden, in denen wir als Nerds in unseren Zimmern saßen, während die coolen Kids Party machten. Andere gehen einen Schritt weiter und entwickeln ihr eigenes Regelwerk – etwa webSTANDARD-Kollege Georg Pichler, der ein System entwickelte, bei dem man neben den üblichen 20-seitigen Würfeln auch mit klassischen sechsseitigen Würfeln spielen kann.

GURPS für alle Lebenslagen

In der STANDARD-Community gibt es auch User, die auf "GURPS" setzen. Das steht für "Generic Universal Role Playing System" und bezeichnet ein generisches Regelwerk, das in allen möglichen Settings verwendet werden kann.

Und dann gibt es noch die Möglichkeit, die Spielmaterialien selber zu gestalten. So habe ich als Jugendlicher bereits die Spielpläne für unsere Das Schwarze Auge-Runden in stundenlanger Arbeit selbst bemalt. Nun, mehr als 20 Jahre später, bin ich noch immer nicht erwachsen, die Spielzeuge sind aber größer geworden: Inzwischen stelle ich im 3D-Drucker eigene Würfel für unsere Spielgruppe her und drucke Figuren aus, die im Gloomhaven-Originalpaket nicht enthalten sind. Auch das sind wieder etliche Stunden Lebenszeit, die ich investiere – aber für ein solch schönes Hobby ist es das allemal wert. (Stefan Mey, 11.1.2021)