Ruhig und naturnah: Diese Vorzüge machen Friedhöfe zu wichtigen Refugien in Städten. Neben Eichhörnchen tauchen auch seltene Arten wie Wiedehopf und Wechselkröte auf.

Foto: Martina Konecny

Wer auf einem der 55 Friedhöfe Wiens unterwegs ist, hat gute Chancen, tierischen Besuchern zu begegnen. Denn die Ruhestätten sind Horte der Artenvielfalt, wie etwa eine mehrjährige Biodiversitätsstudie auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee gezeigt hat.

Auf dem rund 40 Hektar großen Areal fanden sich 363 Arten höherer Pflanzen, 72 Flechten und 27 Farne, zudem 34 Vogel-, fünf Fledermaus-, 39 Laufkäfer- und 69 Spinnenarten, viele davon gefährdet und entsprechend selten. Der Verdacht liegt nahe, dass auch die Wiener Friedhöfe bei einer Größe von mehr als fünf Quadratkilometern reichlich Leben beherbergen.

Wanze und Feldhamster

Eine umfassende Untersuchung ihrer Flora und Fauna ist bislang ausständig. Dieser Umstand soll sich nun ändern. Unter der Leitung von Thomas Filek vom Institut für Paläontologie der Universität Wien läuft seit April 2021 das Citizen-Science-Projekt "Biodiversität am Friedhof" (BaF).

Dabei sind alle Friedhofsbesucherinnen und -besucher aufgerufen, Sichtungen von Tieren zu melden. Nun befasst sich die klassische Paläontologie eigentlich mit Fossilien und anderen Resten ausgestorbener Lebewesen und weniger mit noch lebenden Organismen. Aber eben nicht immer.

"Wir beschäftigen uns speziell mit rezenten Ökosystemen und der Biodiversität im Zuge von Artenzusammensetzungen und Klimaschwankungen, um vergangene, paläontologische Ökosysteme besser zu verstehen", erklärt Filek. Den Ausgangspunkt für die Erhebungen bildet der Zentralfriedhof: mit 240 Hektar die größte Begräbnisstätte Österreichs und die zweitgrößte Europas.

Gefährdete Arten

Hier ruhen nicht nur rund drei Millionen Menschen, sondern es leben neben Rehen und Hasen seltene und gefährdete Arten auf dem Areal, wie der Feldhamster, der Mittelspecht oder das Wiener Nachtpfauenauge, der mit einer Flügelspannweite von bis zu 16 Zentimetern größte heimische Schmetterling.

Weniger attraktiv, aber ein deutlicher Zeiger der Artenvielfalt sind auch die mehr als 190 Wanzenarten, die bei einer Erhebung im Jahr 2009 gefunden wurden. Das ist mehr als ein Drittel aller in Wien vorkommenden Wanzenspezies. Die Friedhöfe Wien GmbH, die 46 der 55 Wiener Begräbnisstätten verwaltet, unterstützt das Projekt tatkräftig. Mittlerweile laufen Untersuchungen auf mehr als der Hälfte der Wiener Friedhöfe.

"Die Zusammenarbeit mit den Friedhofsmitarbeitenden klappt hervorragend", freut sich Filek, "sie sehen natürlich viel im Laufe ihrer Tätigkeit und geben uns immer wieder wertvolle Hinweise." Auf diese Weise gelang es, den stark gefährdeten Wiedehopf auf dem Zentralfriedhof nachzuweisen.

Letzte Zufluchtsorte

Ein Nest des auffälligen Vogels, der in Baum- und Mauerhöhlen brütet, konnte bislang zwar nicht gefunden werden, doch gab es häufige Sichtungen von mehreren Individuen im vergangenen Sommer. Filek schätzt den Bestand auf dem Zentralfriedhof auf zwei Brutpaare.

Im Rahmen einer Masterarbeit wurde auch eine bisher unbekannte Ansammlung des Großen Abendseglers in einem alten Baum gefunden. Die Fledermäuse mit bis zu 40 Zentimetern Flügelspannweite sind zwar noch relativ häufig, brauchen aber Totholzbestände als Sommerquartiere.

Da diese immer seltener werden, ist auch der Große Abendsegler in den letzten Jahren im Rückgang begriffen. Ein echter Biodiversitäts-Hotspot ist laut Filek der 2011 angelegte Naturgarten beim Tor 9 des Zentralfriedhofs.

Die knapp vier Hektar große Fläche ist ein naturbelassener Bereich am Rande des Friedhofs, der auf kleinem Raum Wiesen, einen felsigen Hügel und einen Teich mit Schilfgürtel aufweist. Letzterer ist dafür verantwortlich, dass auch Amphibien zum Arteninventar gehören, unter anderem die gefährdete Wechselkröte.

Citizen-Science-Projekt

Da die Friedhöfe Wiens viel zu groß für eine Erhebung nur durch Fachleute sind, wurde das Citizen-Science-Projekt gestartet. Wer zwischen Gräbern ein Tier, interessante Pflanzen oder einen Pilz entdeckt, kann ein Foto an baf.pal@univie.ac.at senden oder über die Gratis-App "Wildtiere" Meldung erstatten. Wichtig ist, Zeit und Ort der Sichtung anzugeben.

Für den Zentralfriedhof sind seit April 2021 insgesamt 120 Meldungen eingegangen. Gesichtet wurden 51 Vögel, 36 Insekten, wobei vor allem Schmetterlinge vertreten waren, 22 Säugetiere und drei Schlangen.

Diese Zahlen sind allerdings nicht mit der Artenvielfalt gleichzusetzen, da es sich bei den Sichtungen um einzelne Individuen handelt, die auch derselben Art angehören können. Citizen-Science-Beiträge und Erhebungen durch Experten belegen bis jetzt mehr als hundert Tierarten auf dem Zentralfriedhof.

Das Projekt läuft vorerst bis 2024, wobei demnächst eine Kooperation mit dem Botanischen Garten geplant ist, um auch die auf den Friedhöfen vorkommenden Pflanzen umfassend fachkundig zu dokumentieren.

Wanderkorridore

Der Fokus liegt dabei vor allem auf den krautigen Pflanzen, denn die Bäume sind bereits bestens erfasst: "Auf den Wiener Friedhöfen hat jeder Baum eine eigene Nummer", wie Filek erklärt. Die Dokumentation der vorkommenden Pilze ist bereits abgeschlossen. Im Zuge der Erhebung der Artenausstattung sollen auch weitere mögliche beziehungsweise nötige Maßnahmen für Naturschutz und Biodiversität aufgezeigt werden.

Außerdem soll untersucht werden, inwieweit es zwischen den einzelnen Friedhöfen zu einem Austausch zwischen Populationen kommt. Sollten sie als Korridore fungieren, würde das ihre Bedeutung für die Artenvielfalt in der Stadt noch weiter erhöhen. (Susanne Strnadl, 23.1.2022)