Der gefragte Bildungs- und Migrationsexperte Aladin El-Mafaalani: "Wo auch immer wir nach Rassismus suchen, werden wir etwas finden."

Mirza Odabasi

Aladin El-Mafaalani weiß, wovon er spricht. Als Kind syrischer Eltern 1978 im Ruhrgebiet geboren, hat er alle Schubladen und Kategorien, in die man gesteckt werden kann, selbst kennengelernt. Armut und Reichtum, Klasse, Herkunft und Identität, Diskriminierung und Chancengleichheit sind für den Soziologen Begriffe, die immer auch mit der eigenen Erfahrungswelt korrespondieren.

El-Mafaalani war Lehrer an einem Berufskolleg, er war Ministerialbeamter in Nordrhein-Westfalen, heute ist er vielfach ausgezeichneter Professor an der Uni Osnabrück. Spricht er über seine Forschung, dann ist da immer auch ein Lächeln und feiner Humor mit dabei: Es mache hierzulande einen Unterschied, ob "ein Aladin" oder "ein Hans" etwas sage, heißt es dann beispielsweise.

Und damit ist man schon mittendrin in El-Mafaalanis jüngstem Buch. Es heißt Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand (2021). Auf knappen 185 Seiten umreißt der Autor ein komplexes Thema, zu dem freilich noch lange nicht alles gesagt ist, aber bereits vieles gesagt wurde – gerade in den letzten Jahren. Warum, dazu dominieren in der erhitzten alltäglichen Debatte zwei Sichtweisen: Die eine ist, dass Rassismus wieder zunehme bzw. nie weg war. Die andere, dass dieser eher Schnee von gestern sei und heute maßlos übertrieben werde.

El-Mafaalani hat seine eigene These, warum das Thema omnipräsent geworden ist: Die offenen Gesellschaften, zu denen sich die meisten westlichen Demokratien entwickelt haben, ermöglichen es überhaupt erst, dass sich People of Color (PoC), also alle Nichtweißen, lautstark äußern. Das Bild, das der Autor im Buch bemüht: Nachrückende Generationen von PoC, aber auch andere Minderheiten, geben sich nicht mehr damit zufrieden, nur mit am Tisch zu sitzen, um ihr Stück vom Kuchen zu bekommen, sie wollen auch bei der Rezeptur des Backwerks mitreden.

Das Diskriminierungsparadox

Rassismus gehe zwar stark zurück, aber es kommt laut El-Mafaalani zu einem "Diskriminierungsparadox": "Eine zunehmend offene Gesellschaft ermöglicht benachteiligten Gruppen in immer stärkerem Maße Teilhabe; dadurch gibt es auch immer mehr privilegierte Personen aus ehemals benachteiligten Gruppen; diese Privilegierten haben hohe Erwartungen an Anerkennung, Teilhabe und Zugehörigkeit (typisch Mensch) und mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit höhere Erwartungen, als es die (träge) Gesellschaft der Gegenwart realisieren kann (typisch Gesellschaft)."

Studien hätten zudem gezeigt, dass Staaten, in denen die Teilhabechancen groß sind (Skandinavien), mehr berichtete Diskriminierung erleben als Staaten, in denen die Teilhabechancen gering sind, etwa Osteuropa. Nicht zuletzt wurden und werden Osteuropäer häufig selbst Opfer rassistischer Abwertung, wie El-Mafaalani im Teil zur Geschichte des Rassismus erinnert.

Schon Aristoteles begründete die Herrschaft der Griechen über andere Völker rassistisch, so stammt das Wort Sklave vom griechischen Wort für Slawe. Die moderne (Wieder-)Erfindung des Rassismus als Herrschaftsideologie setzte dann mit der "Entdeckung" Amerikas ein, um Kolonialismus zu legitimieren, und wurde im 18. Jahrhundert systematisch umgesetzt – als paradoxes Produkt der Aufklärung, des Drangs, alles und jeden zu kategorisieren und zu beschreiben.

Kaum jemand will heute mehr Rassist sein oder auch nur unbewusst rassistisch handeln, schreibt El-Mafaalani. Struktureller Rassismus aber lebe fort, weil "die Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft rassistisch geprägt" seien. "Fast alles, was die moderne Weltgesellschaft ausmacht, entstand in der Hochphase des Rassismus: Aufklärung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapitalismus, Nationalstaaten und ihre Staatsbürgerschaften."

Immanuel Kants Rassentheorie

Die rassismuskritische Befragung kultureller Werke und der Umgang damit, heute oft unter dem Begriff "Cancel-Culture" diskutiert, sieht El-Mafaalani als logische Entwicklung an, denn: "Egal, wo man sucht, wird man Rassismus finden." Auch bei Säulenheiligen wie Immanuel Kant, der selbst eine geschlossene Rassentheorie entwarf, in der Rote (Indigene Amerikas) und Schwarze Menschen in der Hierarchie ganz unten standen, Asiaten darüber und Weiße an der Spitze.

El-Mafaalani predigt dabei nicht die Tilgung aller derartig befleckten Denkmäler, sondern die Sichtbarmachung und das Sprechen darüber – vornehmlich mit Ruhe und Gelassenheit. Die Tendenz zu Übertreibungen sieht er zuweilen auf beiden Seiten, beim antirassistischen Aktivismus ebenso wie bei der hitzköpfigen Abwehr dagegen. Bedenken solle man vor allem, dass Antirassismus vielstimmig ist: Während etwa die einen Stolz auf die eigene Hautfarbe entwickeln, lehnen andere derlei Kategorisierungen per se ab. "Widerstandsformen gegen Rassismus sind in sich widersprüchlich, weil es der Rassismus selbst auch ist."

Natürlich kann Aladin El-Mafaalanis Essay der Komplexität des Themas nicht in allen Punkten gerecht werden. So verweist er zum mit hineinspielenden Phänomen des Islamismus und der Religionskritik, die einerseits als legitime Herrschaftskritik, im neurechten Spektrum aber auch als Kulturrassismus auftritt, kurzerhand auf frühere Arbeiten. Es ist aber sicher kein Fehler, auch diese zu lesen. (Stefan Weiss, 12.1.2022)