Die blutige Niederschlagung der Proteste in Almaty hat viele Spuren in der Stadt hinterlassen.

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Der Rat für kollektive Sicherheit (OVKS) hat seine Schuldigkeit getan, der OVKS kann gehen: Kasachstans Präsident Kassym-Jomart Tokajew hat den Abzug der mehrheitlich russischen Truppen angeordnet. Die ersten Soldaten sollen bereits am Donnerstag die Heimreise antreten. Laut Tokajew nimmt der gesamte Prozess "nicht mehr als zehn Tage" in Anspruch.

Der kasachische Staatschef hatte erst vor einer Woche die Truppen zu Hilfe gerufen. Er begründete den Einsatz mit einer "terroristischen Attacke von außen". Russlands Präsident Wladimir Putin stimmte dem Hilfsgesuch sofort zu, obwohl der OVKS vor einem Jahr einen Hilferuf Armeniens ignorierte, als das Land mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach im Krieg stand. Der OVKS darf laut Statut nur zur Abwendung äußerer Gefahren eingreifen.

Dass dies in Kasachstan der Fall war, daran bleiben Zweifel, auch wenn die Staatschefs der Militärallianz – neben Tokajew und Wladimir Putin auch noch Alexander Lukaschenko, Emomali Rachmon und Nikol Paschinjan – dies am Montag in einer Videokonferenz via Bildschirm eifrig versicherten.

Putin kennt Vornamen nicht

Putin, der offenbar Tokajews Vornamen nicht kannte und ihn stattdessen mit Kemel Schomartowitsch ansprach (was dieser mit großen Augen, aber ohne Kommentar zur Kenntnis nahm), war ansonsten glänzend über die Umstände der Unruhen in Kasachstan im Bilde und fand Maidan-Technologien aus der Ukraine wieder. Lukaschenko wiederum plauderte aus seinem eigenen Erfahrungsschatz und warnte Usbekistan, das als Nächstes an der Reihe wäre.

Woher die 20.000 Terroristen gekommen sind, die angeblich an den Unruhen beteiligt waren, bleibt weiterhin offen. Tokajew machte auch am Dienstag darüber keine Angaben, als er die "scharfe Phase der Antiterroraktion" für erfolgreich beendet und die Lage in den Regionen für stabilisiert erklärte.

Die massiven Kaderbewegungen im kasachischen Geheimdienst KNB zeugen allerdings eher von einem internen Machtkampf als von einer äußeren Attacke. Mehrere ranghohe Offiziere sind inzwischen tot, angeblich haben sie Selbstmord begangen, weil sie den Angriff auf das Land "verschlafen" haben. Geheimdienstchef und Ex-Premier Karim Massimow wurde bereits vor Tagen entlassen und inzwischen verhaftet.

Aufenthalt unbekannt

Über das Schicksal seines Stellvertreters Samat Abisch gibt es widersprüchliche Meldungen. Zunächst hieß es, er sei ebenfalls verhaftet worden, später wurden entsprechende Meldungen wieder gelöscht. Dabei ist das hochbrisant, denn Abisch ist der Neffe von Altpräsident Nursultan Nasarbajew.

Abisch und sein Bruder Kairat Satybaldy wurden mehrfach als mögliche Köpfe einer Verschwörung genannt. Satybaldy hatte ebenfalls beim Geheimdienst angefangen, ist aber nun einer der reichsten Männer Kasachstans und soll dem Vernehmen nach einer der informalen Führer religiöser Radikaler im Süden des Landes sein. Ob sich aus diesen Islamisten das Gros der Randalierer in Almaty zusammensetzte, darüber kann nur spekuliert werden.

Auffällig war zudem, dass die Polizei in Almaty regelecht verschwand und so erst die Ausschreitungen ermöglicht wurden. Der Hilferuf an den OVKS könnte daher dazu gedient haben, sich die Loyalität der schwankenden Sicherheitsorgane wieder zu sichern.

Offizielle Informationen zur Rolle und zum Schicksal der Brüder gibt es nicht, ebenso wenig wie über den seit Beginn der Proteste verschwundenen Nasarbajew selbst.

Doch kein geordneter Machtübergang

Bis zum Ausbruch der Unruhen galt Kasachstan eigentlich als Paradebeispiel für den geordneten Machtübergang innerhalb einer Autokratie. Nasarbajew hatte seinen Wunschnachfolger Tokajew als Präsidenten installiert, hat selbst aber als Elbassy (Führer der Nation, Anm.) und Chef des Sicherheitsrates weiter die meisten Fäden in der Hand. Zudem saßen Mitglieder seines Clans in hohen Positionen.

Doch diese Machtbalance hat sich nun verschoben. Nicht nur haben die Demonstranten Nasarbajews Statuen gestürzt, auch Bürokraten und Politiker in Kasachstan sind nun bestrebt, seinen Namen zu vermeiden. Die Hauptstadt, vor einigen Jahren ihm zu Ehren in Nursultan umbenannt, wird in den Nachrichten meist nur noch Hauptstadt genannt, gelegentlich ist von Astana (so der alte Name) die Rede.

Die Säuberungen in den Sicherheitsorganen und im Beamtenapparat sind jedenfalls gewaltig und treffen viele Vertraute des Ex-Präsidenten. Tokajew verkündete, dass alte Kader ausgemistet werden müssten und künftig die Möglichkeiten, in den Staatsdienst zu treten, erweitert werden sollen.

Oligarchen sollen zahlen

Und auch die Oligarchen der Nasarbajew-Zeit will Tokajew nun zur Kasse bitten. "Dank des ersten Präsidenten (Nasarbajews Namen nannte Tokajew nicht) sind im Land zudem einige sehr gewinnträchtige Unternehmen und eine Schicht von Reichen entstanden, die wir namentlich kennen", sagte er. Diese müssten nun jährlich bedeutende Summen in einen "Für das Volk Kasachstans"-Fonds einzahlen, forderte Tokajew.

Angesichts dessen, dass der Aufstand mit sozialen Unruhen begonnen hat, dürfte die Umverteilung des Reichtums bei den einfachen Menschen auf Wohlgefallen stoßen. Diesen hatte Tokajew ohnehin das Einfrieren der Preise und mehr soziale Gerechtigkeit versprochen. Die Umsetzung eines solchen Programms könnte Tokajew tatsächlich den Sieg im Machtkampf und ihm eine zweite Amtszeit sichern. (André Ballin aus Moskau, 11.1.2022)