Auch wenn das Aufeinanderschauen gerade etwas in den Hintergrund gerät: Wir sind und bleiben aufeinander angewiesen, sagt Judith Kohlenberger, Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin an der WU Wien, im Gastkommentar. In der derzeitigen Strategie gebe es "moralische Kosten".

Soll man als geboosterte Kontaktperson ins Büro gehen? Das Kind zu Hause betreuen? In der aktuellen Pandemiephase gerät das eigene Verhalten mit den eigenen Werten in Konflikt.
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War die erste Welle der Pandemie noch von Solidaritätsbekundungen und Aufrufen zum "Aufeinanderschauen" geprägt, herrscht nun das Diktum der Eigenverantwortung. "Wo es nicht mehr funktioniert, muss der Mensch selber ohne Behörde aktiv sein", sagt die Generaldirektorin für die Öffentliche Gesundheit, Katharina Reich, im Hinblick auf den erwarteten Zusammenbruch des Contact-Tracings.

Soziologisch betrachtet könnte man nun argumentieren, dass es "den Menschen selbst" gar nicht gibt, existiert doch keiner von uns im sozialen Vakuum. Wir alle sind eingebettet in ein soziales Gefüge, das aus gegenseitigen Ansprüchen und Verpflichtungen besteht, etwa am Arbeitsplatz oder in der Sorgearbeit. In der spätmodernen Gesellschaft, die durch hochgradige Arbeitsteilung und globale Interdependenzen gekennzeichnet ist, stößt die Eigenverantwortung also rasch an ihre Grenzen. Der Einzelne kann zwar selbst Maske tragen und sich impfen lassen, sein Gegenüber aber maximal höflich darum bitten – einfordern und exekutieren kann es nur der Staat.

"Omikron ist so ansteckend, dass wir nicht daran vorbeikommen. Es sei denn, wir sind sehr gut geschützt."
Katharina Reich am 7. 1. im Ö1-Interview. Die Leiterin der Gecko-Kommission rechnet mit einer "Durchseuchung".

Je mehr nun aber pandemisches Verhalten individualisiert wird, desto mehr reproduzieren sich bestehende Ungleichheiten, weil es keine politische wie gesellschaftliche Gegensteuerung gibt. Ohne Homeoffice-Pflicht werden jene, deren Chef es anordnet, weiterhin ins Büro kommen müssen – außer sie sind selbst der Chef. Je weiter die Inzidenz nach oben schnellt, desto gefährdeter ist die Kellnerin, die sich nicht "eigenverantwortlich" isolieren kann – außer, sie riskiert ihren Job. Das Infektionsrisiko steigt mit sinkendem sozialem Status, wie jüngste Daten zeigen: In der Schweiz und in Deutschland liegt die Mortalität von Migrantinnen und Migranten über jener der Gesamtbevölkerung, weil sie durchschnittlich in schlechter bezahlten, aber systemrelevanten Jobs arbeiten, häufiger auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind und in beengten Wohnverhältnissen leben, wo Selbstisolation nicht möglich ist. Je mehr "Eigenverantwortung", desto mehr werden die pandemischen Kosten individualisiert.

Moralische Kosten

Im Corona-Alltag führt das zu einem Phänomen, das in der Forschung als "moral injury" (deutsch: moralische Verletzung) bekannt wurde. Ursprünglich aus dem militärischen Kontext stammend, bezeichnet es Dilemma-Situationen, die im Grunde nicht gelöst werden können, weil das eigene Verhalten dauerhaft in Konflikt mit den eigenen Werten gerät. Das trifft auf Soldaten, die Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten durchführen mussten, genauso zu wie auf medizinisches Personal, das Triage-Entscheidungen zu treffen hat. Schon lange vor Covid-19 wiesen Ärztinnen und Ärzte darauf hin, dass die Bedingungen, unter denen sie Tag für Tag arbeiten mussten, sie davon abhielten, dem hippokratischen Eid gerecht zu werden. Nicht die hohe Arbeitsbelastung an sich, sondern dass sie im klinischen Alltag regelmäßig Entscheidungen treffen mussten, die gegen ihre tief empfundenen Überzeugungen von qualitätsvoller Medizin und Pflege sprachen, führte zu psychischer Belastung und Burnout.

Schau auf mich!

In der Phase der individualisierten Pandemie, in die wir nun getreten sind, wird diese moralische Verletzung nicht nur Fachkräfte der kritischen Infrastruktur, sondern in letzter Instanz uns alle betreffen. Soll ich als geboosterte Kontaktperson ins Büro gehen und meine Kolleginnen und Kollegen gefährden oder aber den Kolleginnen und Kollegen durch meinen Arbeitsausfall noch mehr aufbürden? Soll ich das (ungeimpfte) Kind zu Hause betreuen und damit wiederum Kolleginnen und Kollegen oder den Partner belasten, oder soll ich es in den Kindergarten schicken oder eine (fast sichere) Infektion in Kauf nehmen? Vor dem Hintergrund, dass uns von Beginn der Pandemie an eingetrichtert wurde, zusammenzuhalten und aufeinander zu schauen, ein fast zynischer Strategiewechsel.

Noch viel grundlegender fehlt dadurch aber auch jegliche Motivation, durchzuhalten oder das vielzitierte "Licht am Ende des Tunnels", sprich die Hoffnung auf ein Ende der Ausweglosigkeit, zu sehen. Kann man unter den gegebenen Umständen nur falsche Entscheidungen treffen, weil sie in jedem Fall Schaden anrichten werden, so führt das zu wachsender Dissonanz und einem Gefühl der Sinnlosigkeit. "Eh schon alles wurscht", mag sich der "gelernte Österreicher" denken und sämtliche Vorsichtsmaßnahmen über Bord werfen. Oder, noch folgenreicher, aus der geforderten Eigenverantwortung schließen, dass man sich selbst immer noch am nächsten steht. Das aber, so sollte uns die Pandemie nach fast zwei Jahren verdeutlicht haben, ist gesellschaftlich wie global ein gefährlicher Trugschluss.

Wir sind und bleiben aufeinander angewiesen, und vielleicht ist eine mögliche Richtschnur für die nächsten Wochen, sich genau das immer wieder zu vergegenwärtigen. Und dann, wenn wir aus dem "Durchrauschen" mit all den davongetragenen Schrammen und Wunden aufgetaucht sind, vehement einzufordern, dass die langfristigen Kosten, aber auch die Gewinne aus der Pandemie nicht mehr individualisiert, sondern von der Gemeinschaft getragen werden. In einer von Corona-Folgen gezeichneten Welt könnten wir einen Rest moralischer Unversehrtheit nämlich noch brauchen. (Judith Kohlenberger, 12.1.2022)


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Es antwortet Ulrich Elling, Molekularbiologe am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
DER STANDARD