Offiziell ist "Project Zomboid" noch gar nicht fertig, obwohl es bereits zehn Jahre alt ist.

Foto: The Indie Stone

Eine idyllische Vorstadtwelt, schmucke kleine weiße Häuser, darin Sofas, Fernseher und Küchengeräte in strikt isometrischer Draufsicht: Wer einen ersten Blick auf dieses Spiel wirft, kann es leicht mit einer klassischen Version der Lebenssimulation "The Sims" verwechseln. Auf den zweiten Blick bemerkt man die Blutspuren, die von der Veranda zur Badezimmertür führen, hört genauer hin, welche schockierenden Nachrichten aus dem leise dahindudelnden TV kommen und erblickt die einzig verbliebenen Bewohner dieser unheimlich stillen Einfamilienhaussiedlung. Leise schwankend stehen sie allein oder in Grüppchen überall herum, die Kleidung blutverschmiert, zerrissen und verdreckt, bereit, beim kleinsten Geräusch hungrig loszustolpern.

Es ist Zombieapokalypse, mal wieder – und diesmal, im momentanen Spiel der Stunde, in "Project Zomboid", fällt die sehr klassisch aus: Wie in den ganz alten Genrefilmvorbildern von George Romero wanken die lebenden Toten langsam durch diese verlassene Welt, lassen sich einzeln leicht bekämpfen oder abhängen, doch Vorsicht: In Gruppen sind die dumpf stöhnenden Untoten unaufhaltsam, reißen Barrikaden nieder, drücken Fenster und Türen ein. Ein einziger Biss, ein Kratzer genügt, und das Schicksal jedes Überlebenden ist besiegelt.

Die simulierte Apokalypse

An den lebenden Toten führt in der Popkultur schon lange kein Weg vorbei, doch eine derart detaillierte Zombiekapokalypse wie in diesem Spiel hat man kaum gesehen: Bis zum absurden Detailgrad greifen im selbsternannten "Ultimate Zombie Survival RPG" Simulation und Spielsysteme ineinander. Es kann mit verschiedensten Zutaten gekocht werden, so gut wie jeder Gegenstand kann in seine Einzelteile zerlegt werden, die Spielfiguren sind bis hin zu Körpertemperatur, einzelnen Gliedmaßen und psychischen Zuständen in Statistiken erfasst. Es gibt rollenspieltypische Skills, Berufe und positive wie negative Attribute; wer mag, darf als kurzsichtiger Haubenkoch mit Fitnessfimmel, als fettleibige Polizistin mit Angst vor Blut oder als schlafgestörter Veteran durch die Endzeit wandern.

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Alleine oder im kooperativen Multiplayer versucht man hier, solange es geht, zu überleben. Wie genau, und mit welchem Ziel, das darf man selbst bestimmen. Verschiedene Spielmodi und unterschiedliche Startszenarien lassen die Wahl zwischen ganz hartem Überlebenskampf und etwas entspannterem Kreativmodus. "This is how you died", also "So bist du gestorben", ist allerdings noch immer der fatalistische Slogan dieses Spiels. Bis zum Unhappy End gibt es jede Menge zu tun; das allermeiste davon ergibt sich ganz ohne Skript und für jeden einzigartig aus dem Zusammenspiel all der einzelnen Systeme von "Project Zomboid".

Early-Access-Auferstehung

"Project Zomboid" ist seit wenigen Wochen ein Phänomen auf Steam: Seit Anfang Jänner tummelten sich zeitweise über 65.000 Spielerinnen und Spieler zugleich in dieser erbarmungslosen Sandkiste. Das ist für ein Indiespiel ohne nennenswertes Marketingbudget außergewöhnlich; im Fall von "Project Zomboid" ist es aber noch ein Stück bemerkenswerter. Das Spiel eines kleinen US-amerikanischen Indieteams ist nämlich keine soeben veröffentlichte Neuerscheinung, sondern ein echter Oldie. Seit 2011 ist das Spiel bereits in Entwicklung, seit 2013 kann man es als damals ganz, ganz frühen Early-Access-Titel auf Steam erwerben.

Jahrelang war das Hardcore-Spiel nur einer eher kleinen, über die außergewöhnlich lange Entwicklungszeit zusammengewachsenen Community bekannt, im Dezember explodierten plötzlich die Spielerzahlen. Der Grund dafür trägt die Nummer 41: Der Ende letzten Jahres live gegangene, lange ersehnte "Build 41" lieferte versprochene grafische und spielmechanische Updates und katapultierte das uralte Spiel zuerst bei namhaften Twitch-Kanälen und dann bei Steam selbst in lichte Höhen. "Grafik, Gameplay, Audio und Netcode wurden signifikant remastert und radikal verbessert. Build 41 fühlt sich auch für uns mehr wie ein Sequel als wie ein Patch Update an", ließen die Entwickler wissen. "Mit einem riesigen Map-Update, neuen Spielmechaniken und Systemen ist das bei weitem unser größtes Update bisher."

Wenn die Zeit reif ist

Fast neun Jahre nach dem Start in den Early Access (Anmerkung: darunter versteht man Spiele, die zwar noch nicht fertig, aber bereits spielbar sind und bereits heruntergeladen werden können) ist "Project Zomboid" nun auf überraschende Weise auch kommerziell eine späte Erfolgsgeschichte. Die Gründe dafür sind vielfältig und liegen nicht auf der Hand – immerhin hat die Dekade, die "Project Zomboid" für den Weg bis hierher in Entwicklung verbracht hat, das Zombie-Setting bis zum Überdruss großer Teile des Publikums überstrapaziert.

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Eine mögliche Erklärung: Wie bei vielen Indie-Erfolgen der letzten Jahre kann auch hier der Einfluss von Twitch und seiner neuen Zuschauerökonomie nicht überschätzt werden. Große Streamer wie Sodapoppin lenken die Aufmerksamkeit eines Millionenpublikums auf kleinere Spiele, die dadurch selbst streamen oder zu spielen beginnen. Spiele wie "Project Zomboid" oder der Letztjahreserfolg "Valheim" eignen sich besonders gut für Streams: Als nichtlineare, offene Sandkisten bieten sie jede Menge Gelegenheit für kreatives Spiel und nichtgeskriptete Überraschungen. Weil das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Systeme immer wieder für Abwechslung sorgt, ergibt sich die nötige Dramaturgie jedes Mal von selbst. Koop-Spielmodi machen das Erlebnis für Streamer, Zuseher und Spielerschaft attraktiv; die meist sehr niedrigen Systemanforderungen ermöglichen eine breite Installationsbasis. Dass "Project Zomboid" eine Mitarbeit der Community durch vorbildliche Mod-Einbindung geradezu herausfordert, trägt sicher auch zur Langlebigkeit bei.

Hochkomplex im Early Access – und trotzdem ein Erfolg

Dazu kommt: Die Scheu sowohl vor Hardcore-Spielen wie auch vor dem Early-Access-Modell ist gesunken. Komplexitätsmonster wie "Dwarf Fortress", "Kerbal Space Program", "Rimworld" oder eben "Project Zomboid", das in gewisser Weise dem Roguelike-Vorbild "Cataclysm – Dark Days Ahead" nachgebaut wurde, haben dank Millionen Fans den Weg von ihren Nischen zumindest ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit und eines interessierten Publikums gefunden – vielleicht auch deshalb, weil der lange Jahre weichgespülte Mainstream mit seinem Versprechen immer größerer Zugänglichkeit eine Gegenbewegung bedingt. Dass alle Genannten lange Jahre im Early Access oder als spielbare Alpha-Versionen verbrachten, ist angesichts ihrer Komplexität kein Zufall.

Das Erfolgsmodell von Early Access hat sowohl die Entwicklung derartiger Nischentitel ermöglicht als auch deren Publikum vergrößert. Dabei ist "Project Zomboid" ein quicklebendiger Beweis dafür, dass auch die hartnäckigsten Vorurteile gegenüber dem Modell nicht immer berechtigt sind. Dass ein Spiel nach zehn Jahren Entwicklung nicht nur noch intensiv entwickelt wird, sondern noch kommerziell einschlägt, ist zwar die Ausnahme, aber auch mit der Liebe der Entwickler zum eigenen Herzensprojekt erklärbar.

Im Interview mit NME spricht Chef-Entwickler Chris Simpson über die untypische Early-Access-Geschichte seines Spiels: "Wenn die Leute sehen, dass ein Spiel zehn Jahre im Early Access war, glauben sie immer, das sei eine schreckliche Sache. Sind die Devs langsam? Inkompetent? Es wird sofort in ein negatives Licht gerückt. Keiner hätte sich beschwert, wenn wir schon 2015 die Entwicklung beendet hätten, dann "Zomboid 2" und "Zomboid 3" verkauft hätten. Wir hätten viel mehr verdient, wenn wir den Leuten exakt dieselbe Arbeit, die wir uns gemacht haben, dreimal verkauft hätten. Wir haben uns dagegen entschieden, weil wir eben genau nur dieses eine, das allergrößte Ding machen und beenden wollen. Wenn uns die Menschen für das Label Early Access verurteilen, tut das ein wenig weh. Aber ich bin trotzdem stolz darauf."

Fertig ist "Project Zomboid" noch immer nicht – als nächster Milestone sollen endlich Nichtspielercharaktere (NPCs) wieder ins Spiel gebracht werden. Bis dahin ist diese Zombieapokalypse aber auch unfertig einer der spannendsten Spielplätze im ganzen Medium; und ihr Erfolg ein ebenso unerwarteter wie schöner Start in ein spannendes Spielejahr 2022. (Rainer Sigl, 12.1.2021)