Laut dem Verfassungsgerichtshof ist die Sicherheitslage in Afghanistan noch immer extrem volatil. Auch Behörden anderer EU-Länder – wie hier im Bild deutsche Polizisten bei einer Abschiebung nach Afghanistan – haben die Abschiebungen ausgesetzt.

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Abschiebungen nach Afghanistan sind auch seit der Machtübernahme durch die Taliban unzulässig. Das hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) in drei aktuellen Entscheidungen klargestellt. Zunächst mag das in Anbetracht der prekären Sicherheitslage im Land wenig überraschen. Umso überraschender ist allerdings, dass der Verfassungsgerichtshof überhaupt erst darüber entscheiden musste.

Noch im Oktober 2021 hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) Afghanen den Schutzstatus versagt und eine Abschiebung für zulässig erachtet – Entscheidungen, die von Asylrechts-NGOs stark kritisiert wurden. Jetzt erteilten auch die Verfassungsrichter dem zuständigen Richter am Bundesverwaltungsgericht, Michael Etlinger, eine Absage – und sie hätte kaum deutlicher sein können.

"Beruhigte Sicherheitslage"

In zwei Entscheidungen von Oktober des vergangenen Jahres hatte Richter Etlinger am Bundesverwaltungsgericht damit argumentiert, dass sich die "allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban wieder zu beruhigen" scheint. Die Taliban seien als nunmehrige Regierungsverantwortliche bemüht, entschlossen gegen den IS vorzugehen.

In Entscheidungen von Ende Dezember, die nun bekanntgeworden sind, hat der Verfassungsgerichtshof dieser Argumentation ungewöhnlich deutlich widersprochen. Hinweise auf "willkürliche Kontrollen und Bestrafungen bis hin zu gezielten Hinrichtungen" werden in der Entscheidung schlicht nicht thematisiert.

"Ziel ja erreicht"

Bereits im Sommer habe man von einer "extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan" ausgehen müssen. Es habe jedenfalls eine Situation vorgelegen, in der das Leben der Rückkehrer einer "realen Gefahr" ausgesetzt war. In einem VfGH-Urteil von Ende September 2021 hielt das Höchstgericht fest, dass nicht auszuschließen sei, dass Abgeschobene in Afghanistan nicht gefoltert werden würden. Angesichts der aktuellen Berichtslage, wonach die "Lage in Afghanistan nach wie vor volatil bleibe", werde der Verfassungsgerichtshof bei dieser Auffassung bleiben.

Ob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) als erstinstanzliche Behörde seine Spruchpraxis ändert, wird sich zeigen. Eine entsprechende Anfrage des STANDARD an das Innenministerium blieb vorerst unbeantwortet. Am Donnerstag hieß es dann, dass keine Prognose zur künftigen Entscheidungspraxis abgegeben werden könne. Es handle sich immer um Einzelfallentscheidungen unter Berücksichtigung aller Judikatur, so das Ministerium.

Etliche Afghaninnen und Afghanen, deren Anträge bereits abgelehnt wurden, warten auf eine Entscheidung ihrer Folgeanträge, die sie nach der Machtübernahme der Taliban gestellt haben. Noch Anfang Dezember erließ das BFA einen Abschiebebescheid für einen Afghanen. Die Begründung: Die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich insofern geändert, als die "von den Taliban verübten Anschläge nicht mehr in dieser Häufigkeit vorkommen werden". Ihr Ziel, nämlich die Machtübernahme, hätten sie "ja erreicht".

Scharfe Kritik von NGO

"Der Verfassungsgerichtshof hat nun zum wiederholten Male klar ausgesprochen, dass eine Zurückführung nach Afghanistan dem Folterverbot widersprechen würde", sagt Lukas Gahleitner-Gertz, Rechtsexperte bei der Asylkoordination Österreich. Die Verfassungsrichter hätten das bereits im September klar gesagt und nun nach "einigen vollkommen lebensfremden und offenkundig ideologisch motivierten Entscheidungen einiger weniger Richterinnen und Richter am BVwG wieder unterstrichen".

Gahleitner-Gertz kritisiert, dass trotz der eindeutigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zahlreiche weitere Verfahren von Afghanen stillstehen. Das BFA und das BVwG könnten aufgrund der Sicherheitslage sehr viele zumindest "temporäre Schutztitel" erteilen und Afghanistan-Fälle rasch abarbeiten. Das sei verfahrensökonomisch sinnvoll und würde die Integration beschleunigen.

Laut Gahleitner-Gertz könnten die Behörde oder das Gericht auch in ein oder zwei Jahren überprüfen, ob die Voraussetzungen noch vorliegen, und gegebenenfalls ein Entziehungsverfahren einleiten. Ähnlich sieht das Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper: "Die Republik und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler könnten sich den langen und teuren Instanzenweg sparen."

Nehammer bis zuletzt für Abschiebungen

Noch Anfang August wollte Österreich nach Afghanistan abschieben – mutmaßlich in Kooperation mit deutschen Behörden. Mit einer einstweiligen Verfügung verhinderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die erzwungene Ausreise kurzfristig. Aus dem Innenministerium hieß es damals, dass die einstweilige Verfügung kein "pauschales Verbot" von Abschiebungen nach Afghanistan darstelle.

Anders als etliche andere EU-Staaten hielt der damalige Innenminister und jetzige Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) trotz des Vormarsches der radikalislamistischen Taliban in Afghanistan an Abschiebungen in das Krisenland fest. Das führte zu heftigen Debatten mit dem grünen Koalitionspartner. (Jakob Pflügl, Laurin Lorenz, 12.1.2022)