Russlands Präsident Wladimir Putin will wissen, wo der Schuh drückt.

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Der Duma-Abgeordnete Oleg Morosow hat auf seiner Facebook-Seite eine Ausschreibung gestartet: "100 Verbote (Entscheidungen), die abgeschafft (oder abgeändert) werden sollten", umschrieb der Politiker seine Initiative und versprach als Vorsitzender des Kontrollkomitees im Parlament, "ernsthaft alle Vorschläge zu analysieren".

Morosow ist ein Urgestein im russischen Parlament. Zu Sowjetzeiten noch Dozent an der Fakultät für wissenschaftlichen Kommunismus, orientierte er sich schnell um und fand bereits in der ersten Duma 1994 seinen Platz – zunächst in der mehrheitlich regierungsfreundlichen Abgeordnetengruppe "Neue Regionalpolitik". Unter Präsident Wladimir Putin fand er dann zur Kreml-Partei Einiges Russland und war zeitweise auch in der Präsidialverwaltung für den Bereich Innenpolitik verantwortlich.

Als Leiter des Duma-Kontrollausschusses ist er nach wie vor eine der wichtigsten Figuren des Einigen Russland. Die Initiative für die Aufhebung von Verboten dürfte eine Art Stimmungstest sein.

Stimmungstests

Ein ähnliches Experiment hatte Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin im November gestartet, als er seine Follower im sozialen Netzwerk dazu aufforderte, das von der Regierung geplante Gesetz zur Einführung von QR-Codes zu diskutieren. Von den rund 700.000 Kommentaren damals war die Mehrheit negativ. Tatsächlich verschob das Kabinett daraufhin einige Neuerungen.

Diesmal machte der Vorschlag weniger Furore, wenn auch erneut die Kritik an den QR-Codes in den Kommentaren durchschlug. Andere schlugen vor, die Anhebung des Rentenalters rückgängig zu machen, oder das "Einheitliche Staatsexamen", die Abschlussprüfung in den Schulen, zu kippen. Andere Leser wiederum forderten sogar noch mehr Verbote.

Es gab aber auch politische Forderungen: "Es sollten alle repressiven Gesetze rückgängig gemacht oder ihre Anwendung auf die Staatsduma und den Föderationsrat begrenzt werden", schlug ein Leser vor. Andere forderten die Abschaffung der Online-Wahlen, da sie nicht fälschungssicher seien, die Rücknahme des Gesetzes über ausländische Agenten oder des Verbots von Adoptionen russischer Waisen für US-Bürger.

Alltagsprobleme

Auf die politischen Forderungen reagierte Morosow nicht. Laut Politologen dient die Initiative auch nicht politischen Lockerungen, sondern soll vor allem herausfinden, was die Russen in ihrem Alltag reizt. Der Politiker selbst schlug so in seinem Blogeintrag vor, die Wartezeit im Parkverbot auf zehn bis 15 Minuten zu erhöhen, um beispielsweise Kinder in die Schule oder den Kindergarten zu bringen. Diese Initiative fand wenig Echo.

Diese Art der Social-Network-Demokratie ist auch dem Wegfall üblicher politischer Rückkopplungen geschuldet. Durch administrative Hebel wie der Nichtzulassung potenziell gefährlicher Oppositionskandidaten oder die Wahlnötigung für staatliche Angestellte und Studenten hat der Kreml einen Weg gefunden, sich unabhängig von der Stimmung in der Bevölkerung Mehrheiten zu sichern. Auch unabhängige Umfrageinstitute gibt es kaum noch. Eins der zuverlässigsten, das Lewada-Institut, wurde so zum "ausländischen Agenten" erklärt.

Mit Dienstwohnung in überwachten Elitewohnkomplexen, Limousine, Chauffeur und oft genug auch Leibwächtern sind sie abgeschirmt vom Alltag der Russen. Morosow selbst beispielsweise nutzt ein VIP-Blaulicht an seinem Dienstwagen, um auf der Sperrspur am Stau vorbeizufahren. Das alles wiederum führt dazu, dass Politiker und Duma-Abgeordnete oft als abgehoben wahrgenommen werden, die die Probleme der Bevölkerung kaum noch kennen. (André Ballin aus Moskau, 13.1.2021)