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Keine falsche Scham: Wenn Kinder lernen, wie "das da unten" wirklich heißt, bekommen sie mit, dass sie sich dafür nicht genieren müssen.

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Lina ist eine Neugierige, eine Forscherin. Sie interessiert sich für jedes Ding, für Formen, Farben, Muster, Beschaffenheiten – und auch sehr für ihren eigenen Körper. Sie will wissen, wieso ihre Vulva noch so viele andere Namen hat, warum es sich so gut anfühlt, wenn sie sich dort berührt. Interessant ist für sie auch, wo eigentlich die Babys herkommen und wieso die große Schwester jeden Monat blutet. Es kommt also nicht von ungefähr, dass das Buch, in dem das Mädchen Protagonistin ist, Lina, die Entdeckerin heißt. Geschrieben wurde es von der Psychologin und Sexualpädagogin Katharina Schönborn-Hotter, der Kindergartenpädagogin und Kulturwissenschafterin Lisa Charlotte Sonnberger und dem Texter Flo Staffelmayr. Illustriert hat es Anna Horak. 2020 wurde Lina, die Entdeckerin mit einem Staatspreis für die schönsten Bücher Österreichs ausgezeichnet.

Im Interview erklären die Autorinnen, wieso Eltern oftmals Verniedlichungen lieber sind als präzise Begriffe – wieso aber genau die so wichtig sind. Sie schildern auch, wann der richtige Zeitpunkt ist, mit der Aufklärung zu beginnen, und was Kindern zu einem positiven Körpergefühl verhilft.

STANDARD: Mumu, Spatzi, Pimpfi, "da unten" oder "zwischen den Beinen": Warum verwenden Eltern so häufig Verniedlichungen oder Umschreibungen, wenn sie mit Kindern über Geschlechtsorgane sprechen? Andere Körperteile benennen sie ja auch korrekt.

Schönborn-Hotter: Das stimmt – wir sagen ja auch nicht permanent "Näschen". Der Grund für die Verniedlichungen ist, dass Geschlechtsorgane ein Tabu sind. Sie sind einfach stärker mit Bedeutung aufgeladen als beispielsweise Ellenbogen. Die Verniedlichungen sind eine Strategie, um mit der Scham umzugehen.

STANDARD: Es ist Eltern also peinlich, darüber zu sprechen?

Sonnberger: Vielen wohl schon. Ein anderer Punkt ist, dass es schwerfällt, Kinder als sexuelle Wesen zu sehen, die sie jedoch sind – von Beginn an. Natürlich nicht im Sinne einer erwachsenen Sexualität. Gemeint ist, dass bereits Ungeborene im Bauch der Mutter ihre Geschlechtsorgane berühren, weil sie merken, dass sich das gut anfühlt. Aber das Thema Sexualität hat eine enorme Kraft – vielleicht machen wir Erwachsene es kleiner, um vermeintlich leichter damit umgehen zu können? Den Kindern hilft das allerdings nicht.

Dennoch ist schon einmal viel geschafft, wenn es überhaupt ein Wort für ein Geschlechtsteil gibt. Bei der Recherche für unser Buch ist uns aufgefallen, dass auch unglaublich viele Menschen gar keine Begriffe für ihr Geschlechtsorgan haben. Freunde und Bekannte haben lange gezögert, als wir sie gefragt haben, wie ihre Eltern dazu sagten. Auch "da unten" ist ja eigentlich kein Begriff, sondern nur ein Verweis auf einen Bereich des Körpers. Und selbst wenn es dann einen Begriff gab, wurde er nicht sehr oft verwendet.

STANDARD: In einem STANDARD-Mitreden hat ein User geschrieben, dass seine Großeltern in Tirol zu Penis noch "Stolz" gesagt hätten und zu Vulva "Schande".

Sonnberger: Das ist natürlich ganz offensichtlich abwertend. Aber auch andere Begriffe für die Vulva sind verwirrend, wie etwa das Wort Scheide. Das kommt nämlich von der Scheide für ein Schwert – und jetzt brauche ich wohl nicht weiter zu erklären, wofür dieses Behältnis da ist. Das ist doch alles andere als gleichberechtigt! Hierfür gibt es noch mehr Beispiele: "Schmuckkästchen", "Schlitz", "Ritze" oder "Muschi". Mit diesen Worten schwingen zusätzliche Bedeutungen oder Bilder mit. Muschi werden schließlich auch Katzen genannt.

STANDARD: Lina, die Entdeckerin in Ihrem Buch, weiß, dass ihr Geschlechtsorgan "Vulva" heißt und nicht Muschi oder "da unten".

In "Lina, die Entdeckerin" (Achse-Verlag) erforscht die junge Protagonistin ihren Körper.
Foto: Achse Verlag

Sonnberger: Wir haben Vulva als Begriff verwendet, weil er uns am neutralsten erschienen ist. Außerdem ist er präzise. Viele verwenden das Wort "Vagina", was missverständlich ist, weil Vagina ja eigentlich nur der Schlauch ist, der die Vulva mit der Gebärmutter verbindet. Sagen wir doch einfach Vulva und Penis.

STANDARD: Wieso ist denn eine korrekte Benennung so wichtig?

Sonnberger: Es geht gar nicht so sehr um korrekt, sondern eher um präzise. Eine präzise Benennung ist deshalb wichtig, weil die Begriffe, die wir für etwas verwenden, unsere Sichtweise davon prägen. Sie sind ganz entscheidend für unser Selbstwertgefühl. Wenn ich meinen Körper mag, wenn ich einen positiven Begriff für mein Geschlechtsorgan habe, werde ich es viel eher gegen Übergriffe verteidigen. Letzten Endes ist das also auch eine Prävention von Missbrauch. Wenn ich kein Wort für mein Geschlechtsorgan habe, dann existiert es in meiner Wahrnehmung fast schon nicht. Und wenn es mit "grauslich" in Verbindung steht, werde ich es weniger verteidigen.

Und: Wir sagen auch nicht, dass es keine verniedlichenden Begriffe geben darf – aber bitte zumindest eine Vielfalt. Außerdem sollte Vulva unbedingt im Sprachgebrauch eines Kindes vorhanden sein, weil es der medizinische und damit allen bekannte Begriff ist. So stellen wir sicher, dass sich Kinder jedenfalls klar ausdrücken können und auch verstanden werden. Wir merken, dass Frauen jeden Alters die präzise Benennung schwerfällt.

STANDARD: Was können Eltern ihren Kindern sagen, wenn sie merken, dass ihre Freunde sie komisch anschauen, wenn sie Vulva und Penis verwenden?

Schönborn-Hotter: Dass es komisch ankommen könnte, wenn man Penis und Vulva sagt, der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen. Es sind ja auch die Begriffe, die in der Wissenschaft und in der Medizin verwendet werden. Ich sehe da also wenig Möglichkeit, dass sie jemand abwerten könnte. Aber das kann natürlich vorkommen. Grundsätzlich gilt, wie bei allem: Jede Familie verwendet andere Wörter und Begriffe, und Eltern sollten dem Kind das nötige Selbstvertrauen mitgeben, sich für "seine" Begriffe nicht zu genieren, wenn andere etwas anderes sagen.

STANDARD: Was außer präzisen Begriffen braucht es noch, um Kindern ein positives Körpergefühl mitzugeben?

Sonnberger: Ein ehrlicher, offener Umgang mit dem Thema ist wichtig. Es ist wichtig, die Fragen der Kinder ernst zu nehmen und sie zu beantworten. Denn sonst suchen sie sich die Antworten woanders, im Internet zum Beispiel, und das ist Eltern verständlicherweise auch nicht recht. Wenn man merkt, dass es einem selbst schwerfällt, über Sexualität zu sprechen, kann man das auch ausdrücken und sagen: "Du, da tu ich mir jetzt nicht so leicht", und dem Kind eine andere Gesprächspartnerin, einen anderen Gesprächspartner zur Verfügung stellen. Ich kann gut verstehen, dass es nicht jeder Person gleich leicht fällt über Themen wie Sexualität zu sprechen. Aber auch hier macht die Übung den Meister oder die Meisterin.

Für Kinder ist das Thema übrigens wesentlich weniger schambesetzt. Ihnen ist es total egal, ob wir mit ihnen über einen Baum, das Abendessen oder über die Vulva sprechen. Dass es da angeblich einen Unterschied gibt, bringen erst wir Erwachsene ihnen bei. Allein schon wie wir Begriffe aussprechen, transportiert ganz viel mit. Eine gute Übung ist, uns selbst dabei zuzuhören, wie wir "Ellenbogen" sagen – und wie wir "Penis" oder "Vulva" sagen. Kinder sind extrem schlaue Wesen und merken sofort, ob uns etwas angenehm oder unangenehm ist. Dadurch, dass wir so eine große Sache daraus machen, wird es überhaupt erst heikel.

Schönborn-Hotter: Damit Kinder ein positives Körpergefühl entwickeln können, müssen wir ihnen außerdem mitgeben, dass es nicht gut ist, das Äußere ständig zu bewerten. Kleinkinder stellen ihren Körper noch nicht infrage. Er ist, wie er ist, und gehört einfach zu ihnen. Im Laufe der Entwicklung werden Kinder dann zwangsläufig mit den Schönheitsidealen und permanenten Bewertungen konfrontiert, wie sie in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft vorherrschen. Wenn Mütter oder Väter vor dem Spiegel stehen und sich selbst kritisieren, dann macht das auch etwas mit ihren Kindern. Nur wenn ich meinen Körper annehmen kann, wie er ist, wenn ich mich nicht für meinen Körper schäme, dann kann ich mich auch wohl darin fühlen.

Farben, Muster, Formen: All das und noch mehr interessiert Lina.
Foto: Achse Verlag

STANDARD: Wann sollte man mit seinem Kind über Sex, Gefühle und den Körper sprechen? Wenn die ersten Fragen kommen?

Schönborn-Hotter: Wenn das Kind Interesse zeigt, sollten Eltern diese Themen auf jeden Fall mit ihm besprechen, natürlich altersgerecht. Viele haben nach wie vor die Vorstellung von diesem einen großen Aufklärungsgespräch, bei dem man sich zusammensetzt und alle Details klärt. Aber Sexualerziehung sollte von Anfang an stattfinden und bestenfalls ganz nebenbei laufen. Eltern können damit starten, dass sie Geschlechtsteile benennen und beim Waschen das Kind darauf hinweisen, dass jetzt Vulva oder Penis dran sind.

Sonnberger: Bei Kleinkindern sind Bücher ein gutes Mittel, um ihnen das Thema näherzubringen. Wir empfehlen unseres schon ab drei Jahren. Einige Eltern haben uns zurückgemeldet, dass sie das zu früh finden. Das Argument kann ich nur schwer nachvollziehen. Unsere Geschlechtsorgane sind so wichtige Bestandteile von uns – wieso sollen sie erst ab einem gewissen Alter Thema sein? Wir reden ja auch nicht erst über die Nase, wenn ein Kind zehn ist.

STANDARD: In Ihrem Buch ist auch Hygiene ein großes Thema. Wie können Eltern die Grenzen eines Kindes wahren und es trotzdem sauber halten?

Schönborn-Hotter: Ich weiß aus eigener Erfahrung als Mutter, dass das eine Herausforderung ist. Denn es gibt eine Zeit, wo die Autonomieentwicklung so stark ist, dass die Kinder sich bei fast allem weigern, nur um den Eltern zu zeigen: Ich habe Macht, ich kann Nein sagen – und das ist etwas Tolles! In dieser Phase würde ich einen spielerischen Umgang empfehlen. Als mein Sohn sich geweigert hat zu duschen, haben wir etwa die "Dschungeldusche" eingeführt, mit Geräuschen von Schlangen und Vögeln. Ein Jahr lang hat es nur diese Dschungeldusche gegeben. Die gute Nachricht: Irgendwann wird es wieder besser, das Kind wird sich wieder freiwillig waschen.

STANDARD: Wie ist es, wenn die Oma ein Bussi einfordert?

Schönborn-Hotter: Wenn das Kind das nicht möchte, muss sie das akzeptieren, und die Eltern ebenso. Auch das gehört zur kindlichen Integrität dazu. Es ist total verständlich, dass Höflichkeit ein Wert ist, den Eltern ihren Kindern mitgeben wollen. Das können sie aber auch, ohne Kinder zu drängen, eine körperliche Geste zuzulassen. Höflich sein kann man auch anders. (Lisa Breit, 17.2.2022)