Der Theologe und Ethiker Kurt Remele erinnert in seinem Gastkommentar an den anglikanischen Erzbischof Desmond Tutu und dessen Eintreten für die Sterbehilfe. Lesen Sie dazu auch die Kolumne von Barbara Coudenhove-Kalergi: Ein Alibigesetz zur Sterbehilfe.

Im Jahre 2012 feierte die Gonzaga University ihr 125-jähriges Bestehen. Höhepunkt des Jubiläumsjahres an der kleinen, aber feinen Jesuitenuniversität im Pazifischen Nordwesten der USA, die über eine Top-Mannschaft im "Men’s College"-Basketball verfügt, war die akademische Abschlussfeier Mitte Mai. Bei dieser wurde einem Top-Kirchenmann die Ehrendoktorwürde verliehen: dem am zweiten Weihnachtsfeiertag 2021 verstorbenen südafrikanischen Friedensnobelpreisträger und anglikanischen Erzbischof Desmond Tutu.

Selbstverständlich hielt Tutu auch die Festrede. In dieser zeichnete er das Bild von einem Gott, der alle in seine Arme schließt: kluge Menschen und weniger kluge, große und kleine, schwarze und weiße, jene mit Idealfigur und jene, die diese nicht ganz erreichen, Muslime, Juden und Christen, heterosexuelle, schwule und lesbische Menschen.

Blumen zum Gedenken an Desmond Tutu: Der südafrikanische Erzbischof ist am zweiten Weihnachtsfeiertag im Alter von 90 Jahren gestorben.
Foto: Foto: AFP / Rodger Bosch

Lange vor seiner Gonzaga-Rede bezeichnete Tutu die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und anderen Menschen der LGBT+-Community in Kirche und Gesellschaft als ein "Verbrechen gegen die Menschheit", das "genauso ungerecht ist wie die Apartheid". Diese und andere Stellungnahmen des anglikanischen Erzbischofs, die der kirchenamtlichen Lehre der katholischen Kirche widersprechen, veranlassten rechtskatholische Professoren, Studierende und Alumni der Gonzaga University, gegen die geplante Verleihung des Ehrendoktorats an Tutu aufzubegehren. Sie wandten sich an die universitären und kirchlichen Obrigkeiten, fanden jedoch weder beim Rektor noch beim Jesuitenprovinzial noch beim katholischen Diözesanbischof Gehör. Die Tutu-Gegner konnten freilich nicht ahnen, dass ihnen der anglikanische Erzbischof bald einen weiteren Anlass zur Entrüstung liefern würde. Im Juli 2014 wurde im britischen Guardian ein Beitrag publiziert, der folgende Überschrift trug: Desmond Tutu: A dignified death is our right – I am in favour of assisted dying. Gleich zu Beginn des Beitrags stellt Tutu fest: "Ich habe mein Leben damit verbracht, für die Würde der Lebenden einzutreten. Nun möchte ich mich der Frage widmen, was Würde für sterbende Menschen bedeutet."

"Klar und deutlich spricht sich Tutu für das Recht auf Beihilfe zum Suizid aus und fordert eine entsprechende Änderung der südafrikanischen Gesetzgebung."

Tutu gibt seine Antwort nicht in Form einer wissenschaftlichen Abhandlung. Scharfe Begriffsabgrenzungen zwischen Therapieabbruch (passive Sterbehilfe), Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe) und assistiertem Suizid sind seine Sache nicht. Das mag manche stören, erinnert aber daran, dass es zwischen den verschiedenen Formen der Sterbehilfe eine unleugbare Grauzone gibt. So erklärt Tutu, dass er nicht wünsche, in seinen letzten Lebenstagen künstlich ernährt oder beatmet zu werden: "Ich möchte nicht, dass Menschen mich auf Teufel komm raus am Leben erhalten. Ich bekenne mich zur grundsätzlichen Unantastbarkeit des Lebens – aber nicht um jeden Preis." Apropos Preis: Tutu gesteht, dass er es für unverantwortlich hielte, ihm eine teure sterbensverlängernde Behandlung zukommen zu lassen, die er gar nicht wünscht, obwohl dieses Geld für die gesundheitliche Behandlung jener Menschen, die am Beginn oder in der Blüte ihres Lebens stehen, besser angelegt wäre. Das Abstellen eines Beatmungsgerätes wird übrigens traditionell als "passive Sterbehilfe" beschrieben, auch wenn es aktives menschliches Handeln impliziert.

Ebenso klar und deutlich spricht sich Tutu für das Recht auf Beihilfe zum Suizid aus und fordert eine entsprechende Änderung der südafrikanischen Gesetzgebung. Er berichtet über das Schicksal von Craig Schonegevel, der an einer besonders schweren Form der Neurofibromatose Typ 1 litt, einer genetischen Erkrankung, die durch das Auftreten von gutartigen und bösartigen Tumoren der Haut und des Nervensystems, Veränderungen an Knochen und Blutgefäßen sowie neuropsychologischen Problemen gekennzeichnet ist. Schonegevels Leben bestand vor allem aus Schmerz, Leid und Operationen. Im Alter von 28 Jahren hatte er genug davon und brachte sich um. In seinem Guardian-Beitrag weist Desmond Tutu darauf hin, dass dieser schwerkranke Mann viel lieber durch assistierten Suizid in Gegenwart seiner Eltern gestorben wäre, doch das wäre illegal gewesen: "Unser Rechtssystem verweigerte ihm und seiner Familie einen solch würdevollen Tod."

Moralischer Imperativ

Tutus solide theologische Bildung ließ ihn erkennen, dass moralische Imperative für religiöse Menschen häufig mit bestimmten destruktiven Gottesbildern verbunden sind. "Ich würde keinen Gott verehren, der homophob ist", hielt Tutu deshalb jenen entgegen, die sich gleichen Rechten für homosexuelle Menschen widersetzten. Im Hinblick auf assistiertes Sterben liegt keine vergleichbare Aussage Tutus vor. Gäbe es eine, hätte sie wohl so oder ähnlich gelautet: "Ich würde keinen Gott verehren, der sterbewilligen Schwerstkranken die Selbstverantwortung für ihr Leben und Sterben entreißt, weil er es als sein hoheitliches Privileg erachtet, ihnen eigenhändig den Lebensfaden durchzuschneiden." (Kurt Remele, 13.1.2022)