In "Die Anomalie" verdoppeln sich in einem elektromagnetischen Sturm Flugzeug und Insassen.

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Ein Flugzeug mit 243 Passagieren an Bord gerät im März 2021 über dem Atlantik während einer elektromagnetischen Wirbelsturmfront in heftige Turbulenzen. Das Flugzeug landet danach unbeschadet von Paris kommend in New York. Eine zweite bis ins kleinste Detail identische Maschine mit denselben Passagieren folgt 106 Tage später im Juni. Das Elend der Welt ist groß genug. Was aber tun, wenn sich dieses noch verdoppelt?

Autor Hervé Le Tellier sorgt mit der Ausgangssituation des schon 2020 in Frankreich erschienenen und mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans Die Anomalie für einen Überraschungserfolg. Immerhin rechnet man den Autor der experimentellen Gattung des OuLiPo zu. Die Abkürzung steht für "L’Ouvroir de Littérature Potentielle", "Werkstatt für Potenzielle Literatur". Es geht dabei um "Spracherweiterung durch formale Zwänge". Ein bekanntes Beispiel dafür stellt etwa George Perecs Roman La Disparation (Anton Voyls Fortgang) von 1969 dar, ein Roman, der ohne den Buchstaben "e" geschrieben wurde.

Doppelbödig

Hervé Le Tellier versteht es in Die Anomalie zunächst, ausgewählte Passagiere dieses doppelbödigen Doppelmoppels in kurzen Einzelporträts vorzustellen. Er fährt dabei im Sinne eines Kessels für Buntes schwere Geschütze auf. Wir lernen einen alternden Architekten mit seiner jungen Geliebten kennen, einen Auftragsmörder, eine auf Schadenersatzklagen spezialisierte Anwältin oder einen aus guten Gründen heimlich homosexuellen afrikanischen Popsänger.

Mit dabei ist auch ein Schriftsteller namens Victor Miesel. Der veröffentlicht angesichts der Landung von Flugzeug eins und seiner Erlebnisse eine kurze und bald preisgekrönte Abhandlung namens Die Anomalie. Es geht darin um nichts Geringeres als die Welt, die letztlich keinen Sinn macht: "Der wirkliche Pessimist weiß, dass es schon zu spät ist, um noch Pessimist zu sein." Miesel begeht Selbstmord. Für Miesel zwei stellt dies später ein spanisches Dorf dar. Flugkapitän eins liegt zu dieser Zeit mit unheilbarem Krebs in einem Spital. Kapitän zwei ist pumperlgesund.

Flug zwei wird abgesondert und unter streng bewachte, komplett abgeschirmte Quarantäne gestellt. Die Betrachtungen über die Mühsal der alltäglichen Zumutungen des Alltags und des Lebens in sozialen Beziehungen weichen nun im zweiten Teil des Romans philosophischen Betrachtungen darüber, was passiert, wenn Menschen auch rein physisch mit ihren Doppelgängern konfrontiert werden.

Ein Schwarzes Loch

Hier zieht Hervé Le Tellier mit den Mitteln von Science-Fiction, Satire, Krimi und Zitaten aus der Popkultur sowie Verschwörungstheorien und Fake News tatsächlich alle Register. Dank des Auftauchens des heutzutage pflichtgemäß als Vollidiot dargestellten US-Präsidenten und einer wissenschaftlich auf verzweifeltem Posten agierenden Wissenschaftergruppe, zu der auch Theologen und Philosophen gehören, geht es in der Folge um Schwarze Löcher, Wahrscheinlichkeitstheorie, Astrophysik und Simulationstheorie. Was, wenn wir alle hier auf Erden nur als Computersimulation existieren, die höhergestellten Wesen als Verhaltensexperiment dient? "Wie werden Milliarden virtueller Wesen reagieren, wenn sie mit der Enthüllung ihrer Virtualität konfrontiert werden?"

Für Menschen, denen der Irrsinn des Netflix-Films Don’t Look Up etwas zu banal erscheint und die mit Zeitsprüngen, der Spieltheorie, dem "schwarzen Schwan" von Sir Karl Popper, Parallelwelten oder Matrix etwas anfangen können: Dieses Schwarze Loch führt in ein Universum voll absurder Komik. (Christian Schachinger, 13.1.2022)