Seit die EU-Kommission zum Jahresende Atomenergie und Erdgas laut eines Verordnungsentwurfs unter bestimmten Bedingungen mit dem Label "nachhaltig" versehen will, hat die Diskussion um die dringend notwendige Energiewende in Europa neuen Zündstoff bekommen. Zu einer Lösung des Energiedilemmas könnte die Fusionsenergie beitragen. Beim aktuellen Stand der Technik wird man sich freilich noch eine Weile gedulden müssen, ehe Fusionsstrom durch die Leitungen fließt.

Einen wichtigen Schritt haben nun Wissenschafter vom Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) gesetzt: Ein Team um Ralf Schützhold hat herausgefunden, dass elektrische Spannungsspitzen, wie sie etwa auch bei Blitzeinschlägen verursacht werden, Kernfusionsprozesse deutlich verstärken können.

Die künstlerische Darstellung zeigt die Potentialbarriere der Fusionsreaktion von Bor-11 mit einem Proton. Das Tunneln des Protons kann dabei durch gepulste elektrische Felder verstärkt werden.
Illustr.: HZDR/Sahneweiß

Hoffnung Kernfusion

Bei allen Unkenrufen der vergangenen Jahrzehnte ist die Kernfusion noch lange nicht abgeschrieben – im Gegenteil: Zahlreiche Startups rund um den Globus versprechen bald "grenzenlose, saubere Fusionsenergie" und auch beim europäischen Versuchs-Kernfusionsreaktor Iter hofft man, dass bis 2025 das erste Wasserstoffplasma erzeugt werden kann. Auch wenn die Forschung aktuell Fortschritte macht, Experten gehen davon aus, dass Fusionskraftwerke wohl frühestens erst in einigen Jahrzehnten tatsächlich zur Energiewende beitragen können.

Im Unterschied zur Kernspaltung sollen in Fusionreaktoren Atome zu neuen Elementen verschmolzen werden. Dafür sind extrem hohe Temperaturen und Drücke notwendig, sowie Magnetfelder, die verhindern, dass das heiße Plasma mit seiner Umgebung in Berührung kommt. Nicht bei allen Kernfusionen kommt mehr Energie heraus als man einsetzen muss, um die elektrische Abstoßung der zu fusionierenden Atome zu überwinden. Damit die Rechnung am Ende stimmt, muss die Masse der beiden fusionierenden Kerne zusammen größer sein als die gemeinsame Masse der entstehenden Kerne und Teilchen.

Merkwürdiger Tunneleffekt

Das ist beispielsweise der Fall, wenn man die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu Helium-4 fusioniert. Ein weiterer Vorteil dieser Reaktion ist, dass die elektrische Abstoßung vergleichsweise gering ist. Dass zwei gleichartig geladene Teilchen überhaupt ihre gegenseitige Abstoßung überwinden können, auch wenn ihre Energie dafür eigentlich gar nicht ausreicht – zumindest nach den Gesetzen der klassischen Mechanik – , dafür ist der quantenmechanische Tunneleffekt verantwortlich.

Baustelle des experimentellen Fusionsreaktors Iter am südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache. Das Bild entstand im Oktober 2021.
Foto: ITER Organization

Je mehr sich ein Kern dem anderen annähert, desto größer wird die Abstoßung, die man sich bildlich als einen wachsenden Berg vorstellen kann, die sogenannte Potentialbarriere. Anstatt den anstrengenden Weg über den Gipfel zu nehmen, erlauben die Gesetze der Quantenmechanik, dass der Kern energetisch deutlich günstiger geradewegs durch diesen Berg wandert, beziehungsweise "hindurchtunnelt" und schließlich fusionieren kann.

Leichter durch den Berg

Obwohl der Tunneleffekt in vielen Bereichen der Physik eine wichtige Rolle spielt und erstmals bereits vor fast einhundert Jahren beschrieben wurde, ist das Verständnis des Vorgangs auch heute noch lückenhaft. "Verschiedene Facetten des Einflusses elektrischer Felder auf Tunnelprozesse waren schon bekannt. So können elektrische Felder die Teilchen zusätzlich beschleunigen und dadurch zu mehr Energie verhelfen", sagte Christian Kohlfürst, Koautor der im Fachjournal "Physical Review Research" erschienene Studie. "Außerdem können sie die Potentialbarriere deformieren und auf diesem Weg die Tunnelwahrscheinlichkeit erhöhen."

Diesen Effekt konnten die Wissenschafter nun nachweisen: Ihre Berechnungen zeigen erstmals, dass gepulste, sich zeitlich schnell verändernde elektrische Felder Teilchen aus der Potentialbarriere herausschubsen, wodurch sie leichter tunneln. Dieses Ergebnis lieferte unter anderem eine für die mögliche Energieerzeugung interessante Fusionsreaktion: der Verschmelzung eines Protons mit dem Isotop Bor-11.

Vorteilhafter als die Deuterium-Tritium-Fusion

Diese ist vor allem aufgrund des relativ leicht verfügbaren Brennstoffs interessant. Dabei entstehen drei jeweils zweifach positiv geladene Alphateilchen. Bemerkenswert an dieser Reaktion: Die Energie wird in Form geladener Teilchen freigesetzt und nicht als Neutronenstrahlung wie bei den Fusionsreaktionen, an denen heute hauptsächlich geforscht wird. Das hat Vorteile: Zum einen würden die Probleme, die mit dem Neutronenfluss verbunden sind, deutlich reduziert, wie etwa die Gefahren im Umgang mit ionisierender Strahlung. Zum anderen kann die Energie geladener Teilchen direkt und damit viel einfacher in Elektrizität umgewandelt werden.

Video: Wie Kernfusion funktioniert
iterorganization

Die für die Nutzung der Reaktion erforderlichen Druck- und Temperaturbedingungen sind jedoch noch extremer als jene, die für die Deuterium-Tritium-Fusion etwa im Fusionsreaktor-Experiment Iter benötigt werden. Gerade dort wäre es von Vorteil, die Reaktion durch ein hinreichend schnelles und starkes gepulstes elektrisches Feld zu verstärken.

Künstliche Blitze

Die Erzeugung solcher Felder ist jedoch sehr schwierig. "Wir können uns das prinzipiell wie bei einem Gewitter vorstellen, bei dem sich die in riesigen Wolkenformationen gespeicherte Energie in kürzester Zeit und auf engstem Raum in der Form eines Blitzschlags entlädt", so Schützhold. "Leider sind die heute verfügbaren Anlagen noch nicht ganz in der Lage, derartig schnelle und starke 'künstliche Blitze' zu erzeugen."

Die Wissenschafter verweisen aber auf einen möglichen Ausweg: Das elektrische Feld eines schnell und vor allem dicht am Proton vorbeifliegenden Alphateilchens könnte wie ein solches gepulstes elektrisches Feld wirken und so stark zustoßen, dass das Proton die Potentialbarriere von Bor-11 durchtunneln und die Fusionsreaktion auslösen kann. Alphateilchen mit der dafür notwendigen Pulsenergie werden bei der Proton-Bor-Reaktion tatsächlich erzeugt, können aber auch von außen eingeschossen werden. (tberg, red, 13.1.2022)