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Neue Kulturhauptstadt: Novi Sad aus der Vogelperspektive.

Foto: Getty Images / EyeEm / Djordje Radivojevic

Zur Zeit der osmanischen Herrschaft galt das Gebiet, in dem das heutige Novi Sad liegt, als ausgestorben. Die Siedlungen, die dort zur Zeit des mittelalterlichen Königreichs Ungarn existiert hatten, waren verschwunden. Das Leben begann von vorn.

Nach der Vertreibung der Osmanen entstanden mehrere kleine Siedlungen, die zunehmend ein urbanes Geflecht bildeten. Verkehrstechnisch verfügte es über eine ausgesprochen günstige Lage: Zum einen stellte die Donau eine Verbindung zwischen Westen und Osten her, zum anderen bildete sich auch eine Nord-Süd-Handelsroute heraus.

Vielerlei Völkerschaften ließen sich im Land der Verheißung nieder. Die vor den Türken fliehenden Serben kamen aus dem Süden, die Deutschen aus dem Westen, die Ungarn und Slowaken aus dem Norden, die Rumänen aus dem Osten und die Juden aus jeder Ecke Europas. Diese Leute brachten das Wissen und die Kultur Europas mit.

Dreinamige Stadt

Infolgedessen entwickelte sich die ethnisch bunt zusammengewürfelte Ansiedlung rasant, und die ortsansässigen Handwerker und Händler reisten aus wohlverstandenem eigenem Interesse nach Wien, um den Titel einer freien Königsstadt zu kaufen. Als Kaiserin Maria Theresia sie fragte, was der Name ihrer Stadt sei, antworteten die Bittsteller, dass sie noch keinen Namen habe.

Daraufhin schrieb Maria Theresia in das Gründungsdokument den berühmten Satz: "Nennen wir sie fortan Neoplanta, und mögen sie die dort lebenden Völker in ihrer eigenen Sprache bezeichnen." So wurde daraus das deutsche Neusatz, das serbische Novi Sad und das ungarische Újvidék.

Die dreinamige Stadt bewahrte noch lange Zeit ihre bunte ethnische Zusammensetzung. Die dreinamige Stadt war auch dreisprachig. Das Nebeneinanderleben verlief nicht idyllisch, es ereigneten sich auch schwere nationale Konflikte, doch trotz allem wurde die Stadt zu einem Symbolbild für den Multikulturalismus an der europäischen Peripherie. Dazu trug auch bei, dass sie im Laufe ihrer Geschichte die meiste Zeit nicht zu einem Nationalstaat gehörte, sondern jeweils zu einem Staat von komplexer ethnischer Zusammensetzung.

Abwechslung

Bis 1918 war Novi Sad unter der Habsburger-Herrschaft, woraus es alle Vorteile schöpfte. Der Stadtmagistrat zählte 14 Ratsherrn, sieben Katholiken und sieben Orthodoxe. Keine der beiden Gruppen vermochte die jeweils andere zu überstimmen. Der Bürgermeister war in der einen Legislaturperiode ein Serbe, in der nächsten ein Ungar oder ein Deutscher. So wechselten sie einander ab. Es ist interessant, dass das Vetorecht die Entwicklung der Stadt nicht behinderte.

Novi Sad war im ungarischen Teil der Doppelmonarchie nach Budapest die Stadt, die sich am raschesten entwickelte. Die Mehrheit der Bevölkerung machten mit etwa 40 Prozent die Serben aus, auf sie folgten mit circa 30 Prozent die Ungarn und auf sie die Deutschen, die bis zu 24 Prozent der Bevölkerung stellten. Neben ihnen spielten die Juden eine bedeutende Rolle, doch gab es auch noch Armenier, Slowaken und Rumänen.

Die ethnischen Verhältnisse

Die ethnischen Verhältnisse in der multinationalen Stadt begannen nach dem Ersten Weltkrieg zu kippen. Da sie aber aus der Hoheit des Habsburger-Imperiums unter die des neuen Jugoslawiens geriet, eines wiederum ethnisch bunt zusammengesetzten Landes, blieben die multiethnischen Traditionen lebendig. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch erhielt der Multikulturalismus mit der Vertreibung der Deutschen eine erste Wunde zugefügt.

Die Deutschen verschwanden aus der Stadt, die aber weiterhin in einem ethnisch komplex zusammengesetzten Jugoslawien verblieb. Infolgedessen ging diese Tradition im Tito-System nicht verloren, im Gegenteil, die jugoslawische Führung verlieh der Multinationalität sogar offiziellen Rang. Infolgedessen bewahrte Novi Sad seine Tradition, wachte es über das Gleichgewicht an der Donau, wenn auch der Bevölkerungsanteil der nationalen Minderheiten weiter zurückging.

Alte Identität bewahren

In eine völlig neue Situation geriet Novi Sad mit der Auflösung Jugoslawiens zu Beginn des neuen Jahrtausends, als die Stadt im Laufe ihrer mehrhundertjährigen Geschichte erstmals in das Korsett des Nationalstaats gepresst wurde. Die ethnischen Konflikte hatten Jugoslawien ausgelöscht, so wie der Erste Weltkrieg die österreichisch-ungarische Monarchie ausgelöscht hatte.

Für Novi Sad ging damit ein Abschnitt seiner Geschichte zu Ende. Seine alte Identität verlor es, eine neue fand es noch nicht. Die multiethnische Stadt wurde de facto monoethnisch, mit nicht wenig Nostalgie denkt sie an ihre Vergangenheit zurück.

An der Grenze zwischen Mitteleuropa und Balkan verschmolz sie lange Zeit beide Kulturen in sich, derzeit jedoch ist es ihre einzige Sorge, wie sie sich – wenn schon nicht politisch, so zumindest geistig – Fragmente ihrer alten Identität zu bewahren vermag.

Novi Sad war die größte Verliererin der jugoslawischen Kriege, sie könnte die größte Gewinnerin des EU-Beitritts Serbiens werden. Europa ist für Neoplanta-Novi-Sad-Újvidék-Neusatz der letzte Strohhalm. (László Végel, ALBUM, 15.1.2022)