"Wenn Ronja von Rönne mal wieder sterben will, ruft sie entweder mich an – oder schreibt ein großartiges Buch. Jetzt habe ich schon länger nichts gehört": Benjamin von Stuckrad-Barre als Pressestimme.

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Im Video zum Wanda-Song Bussi Baby springt eine junge Frau auf einem Bett herum. Es ist die 1992 in Berlin geborene Autorin und Bloggerin Ronja von Rönne. Am Ende kokettiert sie mit entblößtem Bein, als wolle sie sich über eine Debatte amüsieren, die sie selbst ausgelöst hat: In einem provokanten Meinungsartikel war zu lesen, der Feminismus, wie er sich heute präsentiere, würde sie "anekeln". Das führte zwangsläufig zu Debatten.

Als die 23-Jährige beim Bachmann-Bewerb in Klagenfurt auftrat, gab es wieder Diskussionen: Die Jurorin Meike Fessmann schimpfte über den Text und sagte, alles an ihm sei Pose. Die Aggression löste Staunen aus, die Verteidigungsreden waren genauso leidenschaftlich. Ebenso kontrovers wurde ihr Debütroman Wir kommen aufgenommen, der von Panikattacken und dem Versuch der Protagonistin handelt, sich gegen eine bevormundende Sprache zu wehren. Nicht wenige fragten sich, was noch kommen würde, an popkulturellen Auftritten, an Provokationen, an Literarischem.

Ihr neuer Roman Ende in Sicht beginnt mit einem Suizidversuch, der scheitert. Die erst 15-jährige Juli ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde. Weder eine Therapie noch das Engagement des alleinerziehenden Vaters konnten ihr weiterhelfen. Jetzt steht der depressive Teenager auf einer sogenannten Grünbrücke, die gebaut wurde, damit "Rehe und Wildschweine nicht der A33 zum Opfer fielen", nicht als "Fallwild" in den "Rädern des Feierabendverkehrs" verenden: "Aber Juli war kein Reh. Und Juli plante keine Überquerung. Ganz im Gegenteil. Juli plante, in wenigen Minuten und mit voller Absicht selbst zu Fallwild zu werden."

Grotesk-melancholisch

Grotesk-melancholische Formulierungen prägen von Rönnes Prosa, in die immer wieder eine Kritik herzloser Sprache eingeschrieben ist. Die Protagonistin hat Glück im Unglück. Weil die Brücke fürs Wild nicht sehr hoch und die Strecke kaum befahren ist, wird Juli ihren Sturz überleben. Sie wird von Hella Licht gefunden, die in einem klapprigen Passat nur langsam vorwärtskommt. Rechtzeitig erkennt sie den verletzten Körper auf der Autobahn, kann Juli an den Fahrbahnrand retten.

Womit die gemeinsame Geschichte der beiden ungleichen Frauen mit einer bitteren Pointe beginnt: Denn auch Hella, die einst als Schlagersängerin gefeiert wurde und mittlerweile höchstens mal auf einer Kaufhausbühne steht, will ihr Leben, das sie nun als glanzlos empfindet, mit einem Giftcocktail in der Schweiz beenden.

Und selbst das wird als Pointe formuliert: "Das Beste, dachte sie so leise wie möglich, denn der Gedanke war ihr vor ihr selbst peinlich, das Beste war, dass sie in der Schweiz zwei Termine hatte: einen zum Sterben und einen einige Stunden davor: zum Schminken und Frisieren."

Szenen mit Knalleffekten

Hella und Juli sind sich nicht sympathisch. In ihren Gesprächen reproduziert sich jene Grobheit, unter der die beiden im Alltag immer gelitten haben. Manchmal scheint der schroffe Ton auch die Sorge füreinander auszudrücken. Was die beiden eint, ist ein gestörtes Verhältnis zur Mutter.

Während Hella darunter litt, dass die Schwester bevorzugt wurde, hat Juli mit einer völlig abwesenden Mutter zu kämpfen: Die verließ früh den Vater, der für das zurückgelassene Mädchen eine rührende Geschichte erfand. Die Mutter sei eine vielbeschäftigte Schneckenforscherin, die überall auf der Welt das Wesen der merkwürdigen Kriechtiere erkunde.

So bekam die Tochter regelmäßig Nachrichten aus fernen Ländern, die aber wie die Schneckengeschichte vom Vater erfunden waren. Die Lüge aber wirkt noch nach, denn die Tochter hat stets ein Schneckenhaus dabei, das angeblich von der Mutter kam, aber doch vom Vater zum Geburtstag auf den Gabentisch gelegt wurde.

Mit einer kalkigen Schale tritt Juli auch an den Brückenrand, um in die Tiefe zu springen. Das Tiergehäuse zerbröselt, das Kind überlebt. Es sind solche Details auf der Motivebene, die dem Roman, der ständig von Ruppigkeiten erzählt, eine seltsam-schöne Zärtlichkeit verleihen. Die Stärke der Autorin besteht aber nicht nur in solchen kleinen Einfällen. Von Rönne versteht sich besonders gut auf Szenen mit Knalleffekten, die letzten Endes gar keine sind, weil die Zündschnur zwar brennt, der explosive Stoff aber nicht in die Luft geht, sondern nur mit dumpfen Geräuschen verpufft.

Ihr größter Hit

Das zeigt sich etwa, als Hella auf einem Dorffest von einem alten Fan wiedererkannt und auf die Bühne gezerrt wird, um ihren größten Hit, nämlich Ende in Sicht vorzutragen – was sie erstaunlich gut hinbekommt. Doch selbst dieser zweifelhafte Moment des späten Ruhms währt nicht lange.

Plötzlich ist der Akku des Mikrofons leer, niemand hört mehr ihre Stimme, außer Hella, die weiter vom Ende singt, das in Sicht sei. Bald stürzt sie betrunken von der Bühne, das Bierzeltpublikum grölt, an dem strauchelnden Star nicht mehr interessiert. Nun muss Juli sie auflesen.

Depression als Zustand

Wenn Depression als Zustand des mentalen Stillstands begriffen werden kann, ist es nur folgerichtig, dass die Autorin von der Depression in einem literarischen Roadmovie erzählt und die Literatur, die von Bewegung handelt, damit ein Stück weit auch zum Therapeutikum wird.

Der Roman vermag die Untiefen der seelischen Erkrankung nicht wirklich erschöpfend auszuloten. Aber das ist auch nicht nötig, im Mittelpunkt steht das brüchige Verhältnis der beiden trostlos Traurigen, die nur gemeinsam ins Leben zurückfinden können. (Carsten Otte, ALBUM, 15.1.2022)