Bereits im März 2021 berichtete mehr als die Hälfte der Jugendlichen von Depressionssymptomen.

Zeichnung: Armin Karner

Auf manch Dahingesagtes reagiere er "mit Blutdruckspitzen", sagt Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH in Wien. Etwa auf einen mit Fortdauer der Pandemie geprägten Begriff, der den Jüngsten und Jungen pauschal psychische und soziale Schädigungen infolge der seuchenbedingten Erschwernisse zuschreibt: Generation Corona.

Hierbei handle es sich um ein "Fehlurteil über diese im Grunde sehr fitten Jahrgänge", sagt der Psychiater. Für einen Arzt, der im AKH selbstbeschädigende und suizidale 13- bis 18-Jährige behandelt und sich mit Traumafolgen in dieser Altersgruppe beschäftigt, ist das ein, auf den ersten Blick, erstaunlicher Befund.

Plener erklärt das so: Zwar hätten die heute Heranwachsenden weit größere Herausforderungen zu bewältigen als frühere Jugendliche – neben der Pandemie auch die Klimakrise und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Und diese beschleunigten Verwerfungen hätten "ein Mehr an psychischen Erkrankungen" zufolge.

Persönliche Krisen jedoch könnten überwunden werden – und in der Folge könne eine Entwicklung starten, die der 43-Jährige in der Klinik in etlichen Fällen beobachtet: "Post traumatic growth", das Wachsen an schweren Herausforderungen, wenn man sich ihnen stelle.

"Besorgniserregender Zustand"

Voraussetzung dafür seien entsprechende Behandlungsangebote. Nur: "Schon vor der Pandemie war das Hilfsangebot für Kinder und Jugendliche in psychischen Krisen in Österreich beschämend gering. Jetzt, mit mehr Bedarf, hängt uns das nach." Die beschlossenen zusätzlichen 13 Millionen Euro für niederschwellige Hilfen im psychosozialen Bereich seien nicht genug.

DER STANDARD

Dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie gelitten hat, belegen zahlreiche Studien. Vor einem Jahr bereits richtete Kathrin Sevecke, Abteilungsleiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hall und der Universitätsklinik in Innsbruck, einen dringenden Appell an die Politik. Der Zustand vieler Kinder und Jugendlichen im Lockdown sei "besorgniserregend", sagte sie.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Österreich gerade im dritten Lockdown. Sevecke forderte eine sofortige Öffnung der Schulen und Freizeiteinrichtungen. Ein Jahr später, im heurigen Jänner, wiederholte sie ihren Aufruf. Sie beobachte noch mehr Jugendliche in "akuten Krisen", mit Selbstmordgedanken, Panikattacken, selbstverletzendem Verhalten oder Fremdaggression.

Studie aus Tirol

In Seveckes Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall erhebt ein Team der Universitätsklinik seit Pandemiebeginn das psychische Befinden von Kindern in Tirol und Südtirol. Der erste Teil der Online-Erhebung wurde während des Lockdowns im März 2020 durchgeführt. Damals sei die Mehrheit der Kinder noch im Normalbereich verortet gewesen.

Im zweiten Teil vor einem Jahr hätten bereits 16 Prozent klinisch relevante Krankheitszeichen aufgewiesen, die professionelle Hilfe erfordern würden. Diese Entwicklung habe sich bis zur dritten Erhebung im Juni 2021 verstärkt: Die Symptome würden von Stress, Überforderung und Angst bis hin zu Hinweisen auf Traumatisierung reichen.

"Dringender Handlungsbedarf"

Auch eine im März 2021 präsentierte Studie der Donau-Universität Krems und Med-Uni Wien, an der auch der AKH-Psychiater Plener mitarbeitete, sorgte für Aufsehen. Für sie waren rund 3000 Schülerinnen und Schüler im Alter ab 14 Jahren aus ganz Österreich zu ihrem seelischen Wohlbefinden befragt worden. Mehr als die Hälfte von ihnen gab an, unter einer depressiven Symptomatik zu leiden, die Hälfte unter Ängsten, ein Viertel unter Schlafstörung. 16 Prozent sprachen von suizidalen Gedanken.

Das Forscherteam stellte aufgrund der Ergebnisse "dringenden Handlungsbedarf" fest. Bei zukünftigen Entscheidungen gelte es, "die psychosozialen Folgen der Pandemie stärker zu berücksichtigen", hielt der Experte für Gesundheitsforschung, Christoph Pieh, in einer Aussendung fest. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen forderte er den Ausbau von rascher und individueller psychischer Betreuung sowie die Förderung der körperlichen Bewegung.

Furcht und Diäten

An Diagnosen und Änderungsvorschlägen, was die Negativfolgen der Pandemie anbelangt, mangelt es somit nicht – vielleicht aber an genaueren Erklärungen. Was genau am in Österreich gewählten Umgang mit der Coronavirus-Pandemie bringt Kinder und Jugendliche zum Verzweifeln und treibt sie in psychische Ausnahmesituationen, bis hin zu Krankheiten?

Elisabeth Brainin, Wiener Psychonanalytikerin, Kinderanalytikerin und Psychiaterin, setzt bei der Ursachensuche bei den innerpsychischen Konflikten an. "Krankmachend sind vielfach die Schuldgefühle junger Menschen in der Pandemie – die Furcht, sich selbst anzustecken und infolge dessen andere zu gefährden."

Noch nie in ihrem jahrzehntelangen beruflichen Leben habe sie einen Diskurs erlebt wie jetzt, "der so massiv zum Ausdruck bringt, dass Kinder für andere eine Gefahr darstellen würden, die unter Umständen sogar tödlich sein kann", sagt Brainin. Dabei denkt sie etwa an die dröhnenden Diskussionen über offene Schulen, dortiges Infektionsrisiko und die Einschleppung der Krankheit in die Familien.

Zum Bleiben gezwungen

Die daraus folgende "Angst um die Oma oder um die eigenen Eltern" stürze die Kinder in innere Zwiespalte. "Die häufige Ambivalenz von Kindern zu ihre Eltern macht es den Kindern schwer, ihrem Unabhängigkeitsstreben nachzugehen. Die Schuldgefühle werden massiv", sagt Brainin. In der Pubertät seien diese Ambivalenzen besonders stark. Die Kinder blieben aufgrund der Pandemiesituation aber stark an Eltern und Großeltern gebunden.

Der AKH-Psychiater Plener berichtet von weiteren psychischen Fallstricken für junge Menschen in der anhaltenden Seuchenbekämpfungslage. Viele Fälle von Magersucht etwa, die er und sein Team nun in der Klinik behandeln, hätten ihre Ursache im ersten Lockdown im März 2020 – und hier konkret in der damals geäußerten Befürchtung, durch mangelnde körperliche Bewegung könnten Übergewicht und Fettsucht überhandnehmen.

"Um ihr Gewicht zu halten, haben manche Jugendliche mit Diäten und strengen Fitnessprogrammen begonnen", schildert Plener. Bei Einzelnen habe sich das Durchhaltevermögen, das es dazu braucht, verselbstständigt. Das Hungern wurde zum Zwang. Auch Brainin berichtet von solchen pandemiebedingten Ritualen, etwa beim Händewaschen.

Ohnmachtsgefühle

Dass in den vergangenen zwei Jahren auch jugendliche Angststörungen zugenommen haben, erklärt Plener mit den "Ohnmachtsgefühlen aufgrund der Fremdbestimmung durch die notwendigen Maßnahmen und die große Unbestimmtheit der Situation". Die ebenfalls häufigeren Depressionen hätten mit dem "Verlust von Tagesstruktur" durch geschlossene Schulen und Freizeiteinrichtungen zu tun, mit den dadurch bedingten mangelnden sozialen Kontakten und dem "allgemeine Fehlen von Ereignissen, die Spaß machen".

Stattdessen verbringen viele Kinder täglich fünf oder mehr Stunden am Smartphone, was eine Verdoppelung im Vergleich zu 2018 bedeutet. Hier hat die Aktion Rat auf Draht ein Pilotprojekt mit einer Peer2Peer-Beratung gestartet. Vier Jugendliche haben im Dezember via Chats andere Junge zu den Themen Sexting, Cybergrooming und sexuelle Belästigung im Netz beraten.

Chats mit Gleichaltrigen

Unter ihnen war auch Lisa, die eigentlich anders heißt, aber in der Zeitung nicht mit ihrem wirklichen Namen vorkommen will. Die 23-Jährige studiert Bildungswissenschaften und kennt die Probleme, die sie am Telefon mit Gleichaltrigen besprochen hat, aus ihrem Freundeskreis: Weil sie "die Situation besser verstehen", seien junge Menschen wie sie in bestimmten Situationen bessere Ansprechpersonen, glaubt die junge Frau.

Die Idee zum Projekt liege schon länger zurück, sagt Christine Piriwe, Sozialpädagogin und Beraterin bei Rat auf Draht. Im Rahmen eines EU-Projekts sei sie nun realisiert worden. Es gehe darum, die Jugendlichen als Generation, die in frühen Lebensjahren eine Pandemie erleben muss, psychisch zu stärken. (Irene Brickner, Anna Giulia Fink, 15.1.2022)