Mit ihrem Video vom Bettelwurf in Tirol haben die Vertriders eine uralte Grundsatzdiskussion neu entfacht.

Foto: Lugo Cairns

Innsbruck – Im November des Vorjahres haben Axel Kreuter und Martin Falkner vom Innsbrucker Team Vertriders den Steig zur Bettelwurfhütte zuerst mit ihren Rädern auf dem Rücken erklommen, um ihn dann bergab zu befahren. Das Video dieser außergewöhnlichen Abfahrt veröffentlichten sie auf der kanadischen Onlineplattform Pinkbike, das STANDARD-"Tretlager" berichtete dazu am vergangene Sonntag. Die Veröffentlichung sorgte in Bike- und Bergsportkreisen für teils kritische, teils bewundernde Reaktionen.

Das Video einer steinigen Abfahrt als Stein des Anstoßes.
VAUDE

Hermann Sonntag, Geschäftsführer des Naturparks Karwendel, ist über das Video ganz und gar nicht erfreut. "Wir waren darüber nicht informiert", kommentiert er die Filmaufnahmen. Der Bettelwurf ist Teil des Naturparks, und Mountainbiken ist hier nur auf eigens dafür ausgewiesenen Strecken erlaubt. Der Steig zur Bettelwurfhütte zählt nicht dazu. Es käme auch niemand auf die Idee, das zu tun. Es bedarf schon eines geübten Bergsteigers, der genug Ausdauer und Trittsicherheit mitbringt, um den Weg zu Fuß zu meistern.

Maxime des Freikletterpioniers Paul Preuß

Genau hier setzt Kreuters Erklärung an. Er bedient sich dabei eines Satzes, den der Pionier und Philosoph des alpinen Freikletterns, Paul Preuß, geprägt hat: "Das Können ist des Dürfens Maß." Preuß, der 1913 bei einem seiner zahllosen Alleingänge ohne Seilsicherung am Gosaukamm in seiner Heimat, dem Salzkammergut, im Alter von nur 27 Jahren abgestürzt und ums Leben kam, lehnte technische Hilfsmittel bei der Kletterei ab und stand mit seiner Haltung im Zentrum einer damals tobenden Kontroverse um das Wesen des Alpinismus.

Kreuter sieht Analogien zwischen dem Klettern von damals und dem Mountainbiken von heute. Die Befahrung des Bettelwurfsteigs ist für ihn keine Leistung, mit der andere animiert werden sollen, es ihm gleichzutun. "Dieser Weg ist durchgängig technisch so schwierig zu fahren, so maximal unbequem, furchtbar, so hart zu erarbeiten, mit alpinen Gefahren, Steinschlag gefährdetem Einstieg – er ist das archetypische Gegenteil eines lässigen Biketrails", beschreibt er die Herausforderung. Daher hätten die Vertriders hier "guten Gewissens" eine Ausnahme gemacht und den Ort, an dem der Film entstanden ist, explizit benannt.

Zugleich stellt Kreuter aber auch klar: "Ich würde dieses Motto nie selbst so als Rechtfertigung oder Erklärung für unsere Aktionen anbringen, ich kann das höchstens als Äußerung von anderen interpretieren. Anders wäre es vermessen." Er leite dieses Motto eher aus den konfliktlosen Begegnungen mit anderen Bergsportlern den auf alpinen Trails ab. Die seien oft grundsätzlich Mountainbike-kritisch, können den Vertridern aber trotzdem ein Verständnis und Respekt entgegenbringen und daher dieses Motto offensichtlich auf sie anwenden.

Kritik für Vertrider nachvollziehbar

Grundsätzlich sehe auch er die Veröffentlichung von Trail-Befahrungen im alpinen Gelände aufgrund der legalen Situation in Österreich, wo dies verboten ist, problematisch. Die Kritik ist für Kreuter daher "durchaus verständlich und nachvollziehbar", wie er sagt: "Als Vertrider befassen wir uns seit über 20 Jahren intensiv auch mit dieser Problematik und setzen uns für ein Miteinander am Trail und Minimierung der Umweltschäden ein. Unsere Regeln lauten: 'Respektiere den Weg, respektiere den Wanderer, respektiere dein Können!' Diese Prinzipien haben wir auch beim Biken und Filmen am Bettelwurf befolgt. "

Naturpark-Geschäftsführer Sonntag sieht dies kritischer: "Solche Aktionen führen dazu, dass es dem Mountainbiken grundsätzlich Wohlgesonnene verstört. Sich an nichts halten und es dann auch noch veröffentlichen und verorten, das ist problematisch." Kreuter hält dem entgegen, dass es wohl kaum jemanden gebe, der aufgrund dieses Videos auf die Idee käme, sein Mountainbike diesen Steig hinaufzutragen. In den vergangenen 20 Jahren, seit das Team Vertriders solche Videos – in der Regel allerdings ohne Ortsangaben – veröffentlicht, sei es noch nie zu einer Nachahmerproblematik gekommen. Was die Extrembiker vollführen, sei nicht dazu geeignet, Menschen zu motivieren, es ihnen gleichzutun.

Nutzungsdruck auf Natur steigt

Es ist die Sorge um den vulnerablen Naturraum, die Hermann Sonntags Ablehnung begründet: "Wir sind so viele. Da muss man aufpassen, dass die Natur nicht unter die Räder kommt." Er berichtet von einer merklichen Zunahme an Naturnutzern, vor allem seit Beginn der Pandemie. Im Vomper Loch sei seit dem Sommer 2020 der Andrang Badender so groß geworden, dass man steuernd eingreifen musste, erzählt er. Die Biwakschachtel bei den Laliderer Wänden wurde unter Kletterern als "Tausend-Sterne-Hotel" zum Geheimtipp – und fand dementsprechend Anklang.

Beim Thema Mountainbiken ist es vor allem die rasant steigende Zahl an E-Bikern, die Sonntag für problematisch hält. Dass diese Klientel, die auf Forstwegen und nur vereinzelt auf Steigen unterwegs ist, nicht mit den Vertridern zu vergleichen ist, räumt aber auch der Naturpark-Geschäftsführer ein. Dennoch steige mit der insgesamt wachsenden Zahl an Radlern der Druck auf die Natur, erklärt Sonntag.

Aber er bestätigt ebenso, dass der Tourismus eine wesentliche Rolle dabei spielt, ein falsches Bild der Realität zu vermitteln. In Innsbruck wird etwa seit Jahren mit Sujets geworben, die Mountainbiker an Stellen in den Bergen zeigen, an denen dieser Sport dezidiert nicht erlaubt ist. Und so werden tatsächlich Menschen animiert, es gleichzutun. Die Kampagne der Österreich Werbung mit der Aufforderung "You like it? Bike it!", die unter Tourismusministerin Elisabeth Köstinger lanciert wurde, zeichnet ebenfalls ein völlig falsches Bild der Realität in Österreich, wo Mountainbiken gemäß Forstgesetz grundsätzlich verboten ist.

Vertriden als Analogie zum alpinen Klettern

Für Kreuter ist das Vertriden die Radfahr-Analogie zum alpinen Klettern. Die große Masse der Mountainbiker suche nicht diese Art puristisches Abenteuer am Berg, so wie er und Falkner es am Bettelwurf taten. Die Masse der Mountainbiker wolle genüsslich mit elektrischem Antrieb zu Hütten auffahren oder suche den Thrill in eigens dafür angelegten Parks und Trailrevieren. "Gäbe es auf die Bettelwurfhütte eine Forststraße, hätten wir dieses Video nicht gemacht. Was wir tun, ist mit hochalpinen Gefahren verbunden, das hat nichts mit Genuss gemein." Diese Art Abenteuer sei unbequem, und es gehe allein darum, das eigene Können, die eigenen Grenzen maximal auszureizen.

Die Abfahrt von der Bettelwurfhütte sei technisch derart extrem, dass es nur ganz wenige Zeitfenster im Jahr gebe, an denen er sich diese Herausforderung selbst zugetraut habe, erklärt Kreuter. An jenen Tagen im November 2021, nachdem die Hütte bereits geschlossen und der Bettelwurf schneebedeckt war, sei niemand mehr dort oben unterwegs gewesen. "Da hat alles gepasst", sagt Kreuter, "wir hatten einen ganzen Sommer lang trainiert, wir waren perfekt vorbereitet." Beiden hätten zu diesem Zeitpunkt genau gewusst, dass sie jetzt dazu in der Lage sind. "Und dennoch war es eine extreme Erfahrung", zieht Kreuter sein Resümee. (Steffen Arora, 16.1.2022)