Erfüllung einer Menschenpflicht: Sona McDonald gedenkt als "Gräfin" der Ermordeten im Umkreis des Rechnitzer "Kreustadels".

Foto: Philine Hofmann

Wien – Den Schauplatz des Verbrechens von Rechnitz kennt man allenfalls vom Hörensagen. In der Nähe des Rechnitzer "Kreuzstadels" wurden in den Märztagen 1945 rund 200 jüdische Arbeitssklaven gezwungen, eine Grube auszuheben. Während die lokalen NS-Bonzen ein rauschendes Fest feierten, wurden etwa 180 Juden, von den Bezechten mit Schusswaffen ermordet, in die Grube gestürzt; das Loch wurde eilig zugescharrt. Die schillerndste Beteiligte am Massaker war eine gewisse Gräfin Batthyány, der anschließend die Flucht in die Schweiz gelang.

Kommt die Rede auf dieses Verbrechen, bewahrt die ansässige Bevölkerung anhaltend dröhnendes Stillschweigen. Am Grauen von Rechnitz zerschellt bis heute jede Beredsamkeit, auch wenn zuletzt Eva Menasse sich dem Thema wieder romanhaft angenähert hat. Und so bringen die Figuren in Elfriede Jelineks Theaterbericht Rechnitz (Der Würgeengel) (2008) das höchste denkbare Opfer: Sie reden, als Boten der antiken Tragödie verkleidet, unausgesetzt.

Sie umkreisen in unablässiger Vergeblichkeit das schändliche Verbrechen. Sie kommen kaum einmal zum Luftholen. Und indem sie jetzt auch im Theater in der Josefstadt als Untote ihr Unwesen treiben – zum Teil als Synchronsprecher ihrer selbst -, machen sie das Dilemma der Rechnitzer Suchbewegung durchhörbar und anschaulich. Es gipfelt – nach einigen pandemischen Verschiebungen der Premieren – in einer klugen, bescheidenen Geste, mit der Regisseurin Anna Bergmann ihrer bis dahin vor Wut zitternden, vor Zynismus triefenden Jelinek-Revue ein Licht aufsteckt.

Höllen-Soubrette

Die Gräfin (Sona MacDonald), bis dahin eine Höllen-Soubrette als Paradiesschlange im erbsengrünen Kleid, erscheint auf einem Video. Sie liest auf dem realen Grund des Kreuzstadels Knochenstücke auf und versieht ihr Amt, indem sie behutsame Klagesänge anstimmt.

Mit der symbolischen Erfüllung der menschlichen Pflicht, der Toten zu gedenken, hat der Vampir jedes Recht erlangt, selbst die letzte Ruhe zu finden. Vorher hatte Bergmann Jelineks kalauernde Wutreden auf lauter Zombies aufgeteilt: alptraumhafte Nazis mit Latexglatzen, die auf einer Drehbühne zu Kitschfiguren ihrer selbst erstarrt sind, komplett nur mit Grillzange und Jagdflinte.

Diese Sprachrohre sind Wiedergänger. Sie bewegen die Lippen zu Jelineks Suada vom Band. Sie lecken sich aber auch die reellen Lippen: aus nackter Gier nach geopfertem Fleisch. Anna Bergmann hat eine Art Sprechmaschine entwickelt, die sich wie eine Trommel dreht (Bühne: Katharina Faltner). Transparente Plastikschürzen stürzen nieder, obszöne Oberförster (Robert Joseph Bartl) ballern blindlings in die Luft, während hinter dem Vorhang Menschen wie Vieh geschlachtet werden.

Die nüchterne Botin (Elfriede Schüsseleder) betont ihre generelle Unzuständigkeit für Moralfragen. Jelinek hat nicht nur das schauerliche T. S. Eliot-Gedicht der Hollow Men in ihr Traktat eingearbeitet ("Wir sind die hohlen Männer, die Ausgestopften…"). Sie kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, und von diesem auf den Nietzsche. Sie erklärt in wenigen Sätzen das Kant’sche Konzept der individuellen Verantwortlichkeit für Makulatur: 200 Jahre Aufklärung werden gleichsam im Handstreich erledigt. Übrig bleiben die Tröstungen des Gesangs, zum Beispiel Der Freischütz, ein Geisterrezitativ aus MacDonalds herrlicher Kehle.

Nachgeborene am Grill

Die Nachgeborenen am Kugelgrill erfreuen sich an den Prospekten populistischer Parteien. Und werfen halbgare Würstchen in den Wiederaufbau-Staub. Sich selbst jagen diese Komplizen unausgesetzt Kugeln in den Kopf. Es nützt ihnen nichts. Sie fahren sogleich wieder auf in die vor medialem Geschwätz dröhnende Realität.

Nur hinten, beinahe unbemerkt von so viel vampirischer Geschäftigkeit, schaufeln nackte Männer ihr eigenes Grab. Keine Macht der Welt kommt gegen das Schweigen von Rechnitz auf, auch nicht Jelineks beispiellose Sprachgewalt. Die Sprache "schweigt", wo sie "schwelgt". Während die Nobelpreisträgerin von der "Staffel" ("Schutz-Staffel") zur "Stafette" hetzt, gelangen Anna Bergmann und das famose Josefstadt-Ensemble zu einer Art Ruhe nach dem Sturm. Diese ist trügerisch, weil das Schweigen von Rechnitz unversöhnt weiterdröhnt. Die paar wenigen Buhs konnte das Leading Team für seine Trauerarbeit getrost in Kauf nehmen. (Ronald Pohl, 16.1.2022)