Ein Spiel von Begehren und Zögern, nur von der Liebe fehlt jede Spur: Hyo-Jung Kang und Davide Dato.

Foto: Ashley Taylor

Endlich wieder ein Ballett-Abend an der Wiener Staatsoper, dessen Zusammenstellung die Auszeichnung "hintergründig" verdient. Der übergreifende Titel für die drei Stücke des neuen Triple-Programms, das am Freitag Premiere hatte, lautet zwar "Liebeslieder", doch was zu sehen ist, entspricht dieser romantischen Verheißung so gar nicht.

Den Auftakt macht "Other Dances", eine Abfolge raffinierter Duette und Soli von Jerome Robbins, in denen sich eine Frau und ein Mann – bei der Premiere wunderbar Hyo-Jung Kang und Davide Dato – zu einem Spiel über Begehren und Zögern zusammentun. Von Liebe keine Spur.

Noch weniger Romantik enthält Lucinda Childs’ brillantes Septett "Concerto". Hier werden die Konstellationen der vier Tänzerinnen und drei Tänzer zueinander mit geometrischer Präzision durchkomponiert. Jegliche gegenseitige Zuwendung bleibt ausgespart.

Und schließlich George Balanchines "Liebeslieder Walzer", der sich ausschließlich um das So-tun-als-ob zu drehen scheint. Vier Tanzpaare und je zwei Sängerinnen und Sänger, die der Schmerzlichkeit einer Einbildung namens Liebe hochartifizielle Geistertänze widmen.

Hochburg der Hinterfotzigkeit

Insgesamt führt das zu einem überaus zeitgemäßen Abend. Auch unter der Voraussetzung, dass Wien seinen Ruf als Hochburg zutiefst offenherziger Hinterfotzigkeit bis heute vortanzt. Mit dem Walzer zum Beispiel. Der in der Zwischenkriegszeit aus der UdSSR in die USA emigrierte Balanchine kam 1977 in die Hauptstadt der Weinseligkeit und machte den Hochkultur-Wienern der gerade weggeschluckten Nachkriegszeit mit der Freigabe seines Balletts "Liebeslieder Walzer" ein freundliches Geschenk.

Heute wirkt dieser Zweiakter eher gespenstisch. Seine kleine Gesellschaft trifft sich in einem Salon mit verfallenen Mauern und Blick zu erstarrten Sternen. Getanzt wird in sich ständig abkühlendem Zwielicht unter einem sinister orange flackernden Luster. Man tanzt und tändelt steif und kapriziös in irgendwie historischen Kostümen, während das Gesangsquartett meisterlich seine schauderhaften Knittelverse (Georg Friedrich Daumer) zu Brahms’ satyrspielhafter Musik vorträgt.

Das Publikum mag das Unheimliche dieses Szenarios erkennen oder verdrängen, aber aus heutiger Sicht passiert da ein ironisches Abfeiern des traditionell konservativen Ballettgeschmacks der lieben Wienerleut’. Anders gesehen ließe sich nur schwer rechtfertigen, dass dieses fast eine Stunde währende Walzern auf die neun Minuten kurze geniale Choreografie der amerikanischen Postmodernen Lucinda Childs folgt.

Childs' Glanzstück

Deren 1993 uraufgeführtes "Concerto" zu Henryk Mikołaj Góreckis mitreißend hartem "Concerto für Cembalo und Streicher op. 40" war zuletzt vor fast 22 Jahren bei dem Wiener Festival tanz2000.at zu sehen und bildet ab jetzt ein Glanzstück im Staatsballett. Dessen Tänzerinnen und Tänzer, darunter Marie Breuilles, Natalya Butchko und François-Eloi Lavignac, haben sich überzeugend in Childs’ Körperästhetik eingearbeitet.

Die Künstlerin verwandelt extreme choreografische Rationalität in Stücke, die ganz direkt auf die Gefühle des Publikums einwirken – radikal anders und wesentlich stärker als die charmanten "Other Dances". Zur Mazurka-Musik von Frédéric Chopin entfaltet Jerome Robbins darin ein Musterbeispiel für fein ziseliertes amerikanisches Ballett, das mit der Hoffnung auf romantische Momente spekuliert.

Fazit: Dieser Abend setzt hinter die vieldiskutierte Behauptung, die romantische Liebe habe sich im 21. Jahrhundert verabschiedet, ein hervorragend getanztes Rufzeichen. (Helmut Ploebst, 16.1.2022)