Fünf der neun Teilnehmer der Expedition, die niemand überleben sollte. Der erste Skitourengeher trägt das Expeditionszeit.

Dyatlow Memorial Foundation

Es ist das vermutlich rätselhafteste Expeditionsunglück in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Zehn russische Skitourengeher –Studierende und Absolventen der Polytechnischen Universität in Jekaterinburg – machen sich zu einer 15-tägigen Tour durch die Wildnis des nordöstlichen Uralgebiets auf. Nur einer der Expeditionsteilnehmer wird das Abenteuer überleben: Juri Judin hat wegen Schmerzen einen Tag nach Beginn der Expedition umdrehen müssen.

Da die Expeditionsteilnehmer ihr Ziel zum vereinbarten Zeitpunkt nicht erreichten, beginnt man mit der Suche. Der ausgeschickte Trupp entdeckt Ende Februar 1959 das halbzerstörte Zelt der sieben Männer und zwei Frauen am relativ flachen Hang des Cholat Sjachl ("Berg des Todes"): Im Inneren des Zelts herrscht großes Durcheinander; zudem ist das Zelt, das zum Teil von Schnee bedeckt ist, von innen gleich mehrfach aufgeschnitten worden.

Das zerstörte Zelt, wie es der Suchtrupp vorfand.
Foto: Dyatlow Memorial Foundation

Am Fuß einer Kiefer, gut einen Kilometer vom Zelt entfernt, werden wenig später die beiden ersten Leichen neben Resten eines Lagerfeuers entdeckt. Sie haben Verbrennungen, aber auch Erfrierungen dritten Grades und sind nur in Unterwäsche gekleidet. Einer Leiche fehlt die Nasenspitze. Auf dem Baum sind bis in einer Höhe von etwa fünf Metern Reste von Haut und Muskelgewebe angefroren.

Einige Wochen später, nachdem ein Teil des Schnees geschmolzen ist, tauchen die weiteren Toten auf, alle im Umkreis von rund 1.300 Metern: Drei befinden sich – ebenfalls kaum bekleidet – auf halbem Weg zwischen Zelt und Kiefer, die am Beginn eines Wäldchens steht. Vier weitere Tote werden erst im Mai in einer Schlucht unterhalb davon entdeckt. Sie sind besser angezogen, aber zum Teil schwer verletzt, wie nach einem Autounfall: gebrochener Schädel, zerschmetterter Brustkorb, gebrochene Rippen. (Fotos der Leichen gibt es hier, ab 18 Jahren.)

Gegenstand zahlloser Spekulationen

Die Gegend, wo dieses Unglück geschah, heißt heute Djatlow-Pass, benannt nach dem Leiter der Expedition, dem 23-jährigen angehenden Funkingenieur Igor Djatlow. Aufgrund der mysteriösen Umstände des Unglücks, das sich in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1959 zutrug, wurde es Gegenstand zahlloser Spekulationen. Bis heute gibt es rund 70 verschiedene (Verschwörungs-)Theorien zur Ursache, die auch in Buchform, auf eigens eingerichteten Internetseiten und zuletzt auch in Form einer TV-Serie vertreten werden.

Um nur die wichtigsten Hypothesen zu nennen: Weil die Kleidung vor allem eines Expeditionsteilnehmers stark verstrahlt war, wird vermutet, dass es um militärische Geheimnisse oder Experimente ging. Natürlich dürfen als mögliche Täter Yetis und Außerirdische nicht fehlen. Auch das indigene Volk der Mansen wurde verdächtigt, ein Massaker begangen zu haben.

War es eine Lawine?

Als wahrscheinlichste Ursache gilt aber nach wie vor eine Lawine, oder besser: die Angst davor. Zu diesem Schluss kam auch der Bericht einer eigens eingerichteten Untersuchungskommission zum 60. Jahrestag des Unglücks 2019: Die Teilnehmer der Expedition hatten das Zelt vermutlich wegen Anzeichen einer bevorstehenden Lawine fluchtartig verlassen und sind in der Folge bei Temperaturen um minus 30 Grad Celsius erfroren, heißt es in den Analysen des jungen Staatsanwalts Andrej Kuryakow, der mit seinem Team die Expedition vor Ort nachstellte.

Doch diese Lawinentheorie hatte lange einen Haken. Der Hang, wo das Zelt am 1. Februar gegen 17 Uhr aufgestellt wurde, ist nicht sehr steil: Die gemessenen 29 Grad Neigung sind eigentlich zu flach für Lawinen. Zudem gab es in der Nacht, in der sich das Unglück ereignete, keinen Schneefall.

Die Expeditionsteilnehmer heben am 1. Februar 1959 gegen 17 Uhr eine Mulde aus, um hier das Zelt zu errichten.
Foto: Dyatlow Memorial Foundation

Ein Forscherduo aus der Schweiz hat vor knapp einem Jahr aber zeigen können, warum eine Lawine beziehungsweise eher ein Schneebrett in dieser Nacht doch in Frage kommt. Wie Johan Gaume (Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos und ETH Zürich) und Alexander Purzin (ETH Zürich) im Fachblatt "Communications Earth and Environment" berichteten, könnten die Aushubarbeiten für das Zelt die Schneemassen oberhalb des Zelts ein wenig instabil gemacht haben.

Die Schneebretttheorie

Durch kalte Fallwinde (sogenannte katabatische Winde) habe sich am angeschnittenen Schneehang oberhalb des Zelts Neuschnee angesammelt, der dann als kleines aber hartes Schneebrett auf das Zelt abgegangen sei und auch zu den Verletzungen geführt habe. (DER STANDARD berichtete.) Die Expeditionsteilnehmer hätten dann fluchtartig das Zelt verlassen und seien in den meisten Fällen erfroren.

Die beiden Forscher aus der Schweiz erläutern ihre Hypothese.
EPFL

Dennoch betonen beide Forscher, dass dieses Unglück in weiten Teilen ein Rätsel bleibt. "Tatsache ist, dass niemand wirklich weiß, was in dieser Nacht geschah", sagte Puzrin nach Veröffentlichung der Arbeit und bezog sich dabei darauf, was die neun Tourengeher nach dem Abgang des Schneebretts genau machten und wie sie letztlich zu Tode kamen.

Kein Anhänger der Lawinentheorie ist der deutsche Chemiker Frank Dieckmann, der sich im Rahmen eines kleinen Forschungsprojekts am Universitätsklinikum Leipzig ein weiteres Mal mit dem Unglück am Djatlow-Pass aus forensischer Sicht befasste. Seine Analysen erschienen kürzlich in der aktuellen Ausgabe des traditionsreichen "Archivs für Kriminologie", einer seit 1898 erscheinenden Fachzeitschrift für forensische Untersuchungen von Kriminalfällen.

Laut Dieckmanns Analysen seien die schweren Verletzungen der betroffenen Personen sicher nicht durch ein Schneebrett im Zelt passiert. Denn die Verletzungen waren zu schwer, um noch den Weg – noch dazu ohne Hilfe der Kameraden, wie die Spuren zeigen – bis zur Kiefer und zur Schlucht zurückzulegen. Zudem spräche gegen die Lawinentheorie, dass keine richtigen Überreste des Schneebretts gefunden wurden.

Ein alternatives Szenario

Aber was war dann in der Nacht vom 1. Februar 1959 am "Berg des Todes" passiert? Dieckmanns Szenario sieht in etwa wie folgt aus: Jene zwei Expeditionsteilnehmer, die bei der Kiefer gefunden wurden, holen nach Errichtung des Zelts Holz für den Ofen. Sie machen ein Feuer, sind aber bald so unterkühlt, dass sie um Hilfe schreien und dafür sogar auf die Kiefer klettern.

Die sieben Kollegen im Zelt erkennen, dass es um Leben und Tod geht, verlassen das Zelt überstürzt in Richtung Kiefer, um den Kameraden zu helfen. Doch die Rettungsaktion kommt zu spät. Dieckmanns Szenario wirft aber mehr Fragen auf, als es Antworten liefert: Warum wurde das Zelt gleich mehrfach von innen aufgeschnitten? Warum begaben sich alle sieben in Lebensgefahr? "Das Zelt wurde panikartig verlassen, um zu Hilfe zu kommen", so Dieckmann auf Nachfrage des STANDARD.

Das mehrfach von innen zerschnittene Zelt. Warum wurden die Schnitte angebracht?
Foto: Dyatlow Memorial Foundation

Und wie erklären sich die schweren Verletzungen? Die resultieren laut Deckmanns dreifach fachbegutachteten Analysen aus der Rettungsaktion: Die Haut- und Gewebereste auf dem Baum würden sich dadurch erklären lassen, dass die beiden dort festfroren; die Verletzungen ihrer Kameraden dadurch, dass die Körper auf die zu spät gekommenen Retter herunterfielen, als diese sie bergen wollten. Nun ja.

Lawinentheorie bleibt plausibler

Da ist die Lawinen- und Schneebretttheorie immer noch um einiges plausibler, zumal sie die überstürzte Flucht aus dem Zelt erklärt: Denn die erfahrenen Skitourengeher mussten – womöglich auch durch andere Anzeichen wie Knackgeräusche – befürchten, dass eine richtige Lawine drohte. Sie führten eine Notfallevakuierung zu einem Gelände durch, das vor einer Lawine sicher gewesen wäre. Sie suchten Schutz im Wald, sie machten ein Feuer und die verbliebenen vier gruben letztlich eine Schneehöhle in der Schlucht.

Sie verhielten sich mithin völlig rational, wie auch schon der nüchterne Bericht von Kuryakow im Jahr 2020 nahelegte, der 2021 auch vom US-Magazin "New Yorker" in einer lesenswerten Rekonstruktion für plausibel erklärt wurde: Wären die Skitourengeher weniger erfahren gewesen, wären sie vielleicht in der Nähe ihres Zeltes geblieben, hätten es ausgegraben und überlebt. Aber Lawinen sind im Winter die mit Abstand größte Gefahr in den Bergen, und je mehr Erfahrung man hat, desto mehr fürchtet man sie. Die Erfahrung der Expeditionsteilnehmer wurde ihnen in diesem Fall zum tragischen Verhängnis.

Wie es zu den rätselhaften Verletzungen der Toten kam, kann aber auch Kuryakows Bericht nicht wirklich erklären. (Klaus Taschwer, 22.1.2022)