Im Gastblog sprechen Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl mit Kathrin Otrel-Cass über Digitale Interaktion.

Kathrin Otrel-Cass ist Professorin am Institut für Bildungsforschung und Pädagoginnen- und Pädagogenbildung an der Universität Graz, wo sie den Arbeitsbereich Lehre/Lernen und digitale Transformation leitet. Ihr Forschungsinteresse liegt in den Auswirkungen der Digitalität im Unterricht. Methodisch arbeitet sie ethnografisch, also mit dem Fokus darauf, Personen, und hier vor allem Kinder und Jugendliche, zu beobachten, wie sie mit Technologie interagieren oder wie sie miteinander unter Verwendung von Technologie interagieren.

Veränderungen durch die Technologie

"Generell bin ich natürlich an der Technologie interessiert und neugierig, welche tollen Tools und Einsatzmöglichkeiten es gibt. Im Lauf der Zeit bin ich aber immer kritischer geworden, was die Digitalisierung mit uns, und vor allem natürlich mit den Kindern und Jugendlichen macht. So bin ich mittlerweile theoretisch im Posthumanismus angekommen." Unter Posthumanismus versteht Otrel-Cass, dass Mensch und Technologie untrennbar miteinander verflochten sind. Wenn man also verstehen will, wie sich die Digitalisierung auf unser Leben auswirkt, hilft es, den Menschen nicht als abgehoben zu sehen, sondern als Teil des Ganzen.

Ein Beispiel sind die Auswirkungen von Smartphones und den Apps im Leben junger Leute und der Einsatz dieser Technologie im Unterricht. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Smartphone-Technologie sollte laut Otrel-Cass damit beginnen zu akzeptieren, dass diese Technologie fest im Alltag junger Menschen verankert ist. Dann kann man sich damit auseinandersetzen, wie Smartphones das Verhalten bestimmen und beeinflussen, zum Beispiel, wenn sie Notifications hören und darauf auch spätnachts antworten wollen, weil: Es könnte ja ein Schulkollege, eine Schulkollegin sein, der oder die Hilfe bei der Hausaufgabe braucht. Und Jugendliche und Kinder wollen natürlich für ihre Peers da sein, und sie wollen mit dabei sein.

Ein zweites Beispiel aus dem Online-Unterricht illustriert die Veränderung der verkörperten Präsenz, also wie und welche Körper da sind und wahrgenommen werden: "Manchmal sehe ich die Studierenden per Video, aber viel öfter eigentlich nicht. Das ist auf der einen Seite sehr vergeistigt, ich nehme ja die Körper der anderen fast gar nicht wahr. Auf der anderen Seite sieht man sich ständig selbst in den meisten Videokonferenz-Technologien. In Präsenz sehen wir uns selbst nicht im Gespräch; aber nun gibt es in diesem virtuellen Raum viel mehr Bewusstsein über den eigenen Körper und wie dieser eventuell interpretiert werden könnte als üblicherweise im physischen Raum."

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Kinder und Jugendliche stehen durch Notficiations unter Druck, jederzeit und schnell zu antworten – auch bis spät in die Nacht hinein.
Foto: Getty Images/Manuel Breva Colmeiro

Technologie als Akteur

Die Technologie ist, so Otrel-Cass, als Akteur in diesem Arrangement mittendrin: "Es wird etwas mit uns gemacht, und wir machen auch etwas mit der Technik." Damit ist gemeint, dass wir oft entscheiden können, welche Technologie wir verwenden und wie. In diesem Sinn sind wir alle auch Designerinnen und Designer. "Die Studierenden schalten zum Beispiel ihre Kameras aus, und dann organisiere ich als Lehrende vielleicht Breakout-Rooms", erklärt Otrel-Cass. Auch in der Entwicklung agieren erst einmal die Menschen, die entscheiden: Wie könnten meine Nutzer und Nutzerinnen diese Technologie verwenden?

Allerdings wirken viele Technologien proaktiv auf uns, zum Beispiel wenn nach einiger Zeit ein Software-Update auftaucht und die Software anders aussieht – oder eben durch Notifications. Also, ohne dass wir als User und Userinnen ein menschliches Gegenüber sehen, macht diese Technologie etwas.

Natürlich stellt sich, so Otrel-Cass, eine weiterreichende Frage: "Inwieweit ist dieses Agieren der Technologie wirklich ein reflektierendes Agieren? Ist das schon Bewusstsein? Bewusstsein hat etwas mit Reflexion zu tun. Bis vor kurzem dachten wir als Menschen natürlich, nur wir Menschen haben Bewusstsein. Mittlerweile gibt es Philosophen, die sagen, Pflanzen haben Bewusstsein; Tiere sowieso. Bewusstsein verstehen wir jetzt also schon nicht mehr als exklusiv dem Menschen vorbehalten."

Verstehen und unterstützen

Als größte Konsequenz oder Herausforderung der Digitalisierung sieht Otrel-Cass die Schnelllebigkeit. Das sei für sie einerseits das Fantastische an der Digitalisierung, weil sie ermöglicht, Dinge unglaublich schnell zu kommunizieren und zu prozessieren. "Diese Schnelligkeit lieben wir, ganz schnell eine Antwort zu bekommen, schnell als Experte oder Expertin dazustehen. Das ist wie eine Verführung unseres Selbst. Nur hat die Schnelligkeit Konsequenzen. Wir wissen zum Beispiel nicht mehr genau, woher die Informationen, die wir erhalten, kommen, und wem man noch vertrauen kann."

Die Schnelligkeit führt auch dazu, dass wir als Erwachsene und Gesellschaft nicht automatisch wissen, welcher Umgang mit Technologien richtig ist. Wir sind also mit neuen Technologien konfrontiert, die wir in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung für uns erst einmal erfassen müssen: Wie geht es uns mit diesen Technologien, wie gehen wir gut damit um, wie "sind" denn diese Technologien eigentlich?

In ihrer Arbeit mit Jugendlichen sieht Otrel-Cass, dass junge Menschen sich durchaus bewusst sind, wie enorm die ständig verfügbare Technologie, zum Beispiel das Smartphone, sich auf ihr Leben und ihr Wohlbefinden auswirkt. "Gleichzeitig ist natürlich die Welt, in der ich aufgewachsen bin, aber auch die Welt der jetzigen Lehramtsstudierenden, eine ganz andere als die der jetzigen Kinder und Jugendlichen. Natürlich müssen also die Kinder und Jugendlichen lernen, auf gute Weise mit neuen Technologien umzugehen. Dadurch, dass wir Älteren ihre technologisierte, digitale Welt aber gar nicht so gut kennen, geht das, glaube ich, nur, wenn wir Älteren mit Kindern und Jugendlichen darüber sprechen und erst einmal zuhören."

Gleichzeitig können sich einzelne Jugendliche der Verführung zur Schnelligkeit aber auch nicht immer ganz alleine entziehen. "Es braucht also schon Eltern, Lehrkräfte, Gesetzgeber, Technologiekonzerne, die ganze Gesellschaft, die hier einschreitet, aber es muss ein gemeinsames Gespräch geben", so Otrel-Cass abschließend. (Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl, Franziska Gürtl, Bernhard Wieser, 27.1.2022)