Sehnsuchtsort, Kulturgroßmacht, Tourismusdestination Nummer eins, Überlebenskünstler par excellence. Trifft alles zu. Bloß eins ist Italien noch nie gewesen: ein Anker politischer Stabilität. Dutzende kurz- und kürzestlebige Regierungen seit Kriegsende belegen das eindrücklich.

Und ausgerechnet jetzt – inmitten einer Pandemie, inmitten ebenso notwendiger wie ambitionierter Reformvorhaben – braucht das Land ein neues Staatsoberhaupt. Zugegeben: Das Amt ist eher repräsentativer Natur und wurde stets von honorigen älteren Herren ausgeübt. Daher rührt auch die liebevolle Bezeichnung des Staatsoberhaupts als "nonno" – Großpapa – der Nation. Doch diesmal ist alles anders: Wir werden Zeugen eines knallharten Machtpokers mit weitreichender Wirkung.

Silvio Berlusconi hofft auf etliche Stimmen aus dem Lager der mit Draghi unzufriedenen Linken.
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Denn sollten die 1009 Wahlmänner und -frauen im italienischen Parlament tatsächlich den vielfach umworbenen Ministerpräsidenten Mario Draghi zum Staatsoberhaupt küren, würde das nicht nur zu vorgezogenen Neuwahlen und einem deutlichen Rechtsruck führen, sondern auch in ganz Europa für große Beunruhigung sorgen: Denn bisher scheint nur "Super Mario", der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, in der Lage zu sein, eine breite Regierung anzuführen, die der EU auch Resultate präsentieren kann, wenn es um die Umsetzung der 200 Milliarden Euro schweren Förderprojekte aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU geht.

Ausgerechnet in dieser Situation sieht der 85-jährige Gottseibeiuns der italienischen Politik die – wohl letzte – Chance seines Lebens: Silvio Berlusconi, vorbestrafter Medienunternehmer und mehrmaliger Ministerpräsident, hat bereits die Rechtsparteien hinter sich geschart und hofft nun auf etliche Stimmen aus dem Lager der mit Draghi unzufriedenen Linken.

Wunschtraum

Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, hat sich dieser Tage im Corriere della Sera schon auf Berlusconis Seite geschlagen – kein Wunder, hat dessen Forza Italia als fünftstärkste Partei in der EVP-Fraktion doch ordentliches Gewicht. Dass der Deutsche aber justament in Berlusconi jemanden sieht, der Italien zur dringend nötigen Einheit führen kann, ist ein Wunschtraum: Niemand hat Italien in den vergangenen Jahrzehnten derart gespalten wie der skandalbehaftete und prozessbelastete Berlusconi. "Nonno Silvio" ist für Millionen in Italien schlichtweg denkunmöglich. Und dennoch könnte es so kommen.

Noch hat Ex-EZB-Chef Draghi seine Karten nicht auf den Tisch gelegt. Selbst antreten, um Berlusconi zu verhindern – womöglich um den Preis riskanter Neuwahlen und künftiger Unregierbarkeit des Landes? Oder Berlusconi indirekt "zulassen", um Italien mit ihm selbst am Ruder zumindest für ein weiteres Jahr bis zu den regulären Parlamentswahlen auf Europakurs zu halten? Ein Dilemma.

Vielleicht aber trägt die Lösung einen ganz anderen Namen. Auch große Kaliber wie die Ex-Premiers Giuliano Amato und Romano Prodi sowie Senatspräsidentin Maria Elisabetta Alberti Casellati oder Ex-Bildungsministerin und Unternehmerin Letizia Moratti gelten als geeignet.

Sie alle haben sich bisher nicht in die Karten blicken lassen und warten damit auf den letzten Moment: wenn nämlich klar ist, dass es nun gilt, nicht nur Neuwahlen, sondern auch Berlusconi zu verhindern. (Gianluca Wallisch, 18.1.2022)