Die im Krieg zerstörte Nationalbibliothek in Sarajewo.

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Die Vorstellung davon, was eine Bibliothek alles sein kann, hat sich in den letzten Jahren radikal in Richtung Freizeitort, sozialer Raum, Ort für Austausch und Integration weiterentwickelt. Bücherregale treten angesichts dessen immer mehr in den Hintergrund. Nichtsdestoweniger erfüllen Bibliotheken auch heute noch die Aufgabe zu informieren – wie schon vor 2.600 Jahren die Bibliothek des Assyrerkönigs Assurbanipal. Das dort versammelte Wissen sollte dem Regenten helfen zu entscheiden, "wann die günstigste Zeit war, in den Krieg zu ziehen, zu heiraten, ein Kind zu bekommen, die Saat auszubringen", schreibt Richard Ovenden in seinem Buch Bedrohte Bücher. Klar, was als Wissen gilt, wandelt sich im Lauf der Jahrtausende, und manche von Assurbanipals Entscheidungsgrundlagen würden wir heute wohl als Aberglauben abtun. Wegen ihrer Bedeutung verfügte die aus Tontafeln bestehende Sammlung aber schon über Metadaten zur übersichtlichen Nutzung.

Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens lautet der Untertitel der vor Details fast berstenden 400 Seiten. Von der antiken Welt hangelt sich Ovenden, seines Zeichens Direktor der auf eine 600-jährige Tradition zurückblickenden Bodleian Library in Oxford, über die mittelalterliche Buchkultur auf der britischen Insel, die Entstehung der Kongressbibliothek in Washington, D.C., oder die Bücherverbrennungen der Nazis bis in die Gegenwart. Man erfährt so, in welchem Klima Papyrusschriftrollen gut erhalten bleiben oder dass ab dem Jahr 794 die erste Papiermühle in Bagdad so viel Papier produzierte, dass die Verwaltung dort von Pergament auf den neuen Träger umsteigen konnte. Zudem befeuerte der Beschreibstoff in der muslimischen Welt den Aufbau riesiger Bibliotheken, während die Bestände in Europas Klöstern noch schmal waren.

Von der DDR in den Irak

Ovenden stürzt sich in (manchmal fast zu) genaue Beschreibungen konkreter Beispiele, an die er stets auch allgemeinere Fragen knüpft. Er prescht mit seinen Überlegungen quer durchs Gemüsebeet. Von dem der deutschen Bevölkerung nach der Wende zugänglich gemachten DDR-Stasiarchiv zieht er beispielsweise eine Gedankenlinie zu den im Irakkrieg in den 1970ern von den Amerikanern außer Landes verbrachten Teilen des dortigen Nationalarchivs und fragt: Hat das Fehlen der eigenen Dokumente "den Heilungsprozess dieser Gesellschaft verzögert"?

Nicht umsonst hat die feindliche Auslöschung von Archiven als Angriff auf identitätsstiftendes Kulturgut und kollektives Gedächtnis eine lange Tradition, wie für den Autor auch Brandstiftungen im Zuge der Reformation und später das gezielte Bombardement der Nationalbibliothek von Bosnien und Herzegowina mit serbischen Granaten 1992 beweist. Das geht über symbolische Gesten hinaus. Heute, da Verwaltungsdaten digitalisiert und mehrfach abgesichert gelagert werden, mag man sich zudem nicht vorstellen, was es bedeutete, wenn singuläre Akten über Bevölkerungsdaten oder Grundbesitz vernichtet wurden, gibt Ovenden zu bedenken.

Für Archivierung sozialer Plattformen

Wobei er nicht in der Vergangenheit feststeckt: Auch Bibliotheken kennen Hackerangriffe. Und weit über den praktischen Nutzen digitalisierter Bestände hinaus ist er sich für die Zukunft sicher, dass es angesichts der Reichweite der sozialen Medien eine systematische Konservierung von deren Inhalten geben müsse. Erste Ansätze und erste Schritte hier und dort benennt er, es sei aber eigentlich eine Aufgabe über geopolitische Grenzen hinweg.

Um Literatur geht es in dem Band eher nur am Rande. Dann befasst sich Ovenden mit dem Umgang mit den Nachlässen von Lord Byron, Kafka und Sylvia Plath. Was hätte es für Kafkas Status bedeutet, hätte sein Freund Max Brod damals wirklich alles noch Unveröffentlichte wie gewünscht posthum vernichtet?

"Wissen zu bewahren war nie billig", schlussfolgert Ovenden. Doch er zeigt auch: Es ist der Mühe wert. (Michael Wurmitzer, 19.1.2022)