Im großen Einhorn-Rennen, also bei Start-ups, die über eine Milliarde US-Dollar wert sind (engl. Unicorns), fällt Europa immer weiter hinter den USA und China zurück.

Illustration: Fatih Aydogdu

Was Innovationen betrifft, konnte Europa einst niemand etwas vormachen: Die Forscher und Innovatoren des Kontinents trugen maßgeblich zu bahnbrechenden Erfindungen wie dem Verbrennungsmotor, Penicillin, dem Radio oder dem World Wide Web bei. Kaum sonst wo auf der Welt wurde in den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende so viel in Forschung und Entwicklung investiert wie in den europäischen Staaten.

Doch seit einigen Jahren scheinen europäische Unternehmen bei großen technischen und digitalen Innovationen den Anschluss verloren zu haben. Von den zwanzig größten Digitalkonzernen weltweit kommt gerade einmal einer aus Europa. Konzerne wie Amazon, Apple, Alphabet, Tencent oder Alibaba sind allesamt außerhalb Europas entstanden – und dass, obwohl die EU nach wie vor zu den größten Wirtschaftsmächten der Welt gehört.

Immer mehr zurückgefallen

Die Unterschiede sind zum Teil gewaltig: Jeder einzelne der Top Five der US-Techgiganten, wozu Google (Alphabet), Amazon, Facebook (Meta), Apple und Microsoft zählen, ist mehr als dreimal so viel wert wie die gesamte europäische Techbranche. SAP, der mit Abstand größte Techkonzern in der EU, schafft es nicht einmal annähernd, Apple oder Microsoft das Wasser zu reichen. Lediglich zehn Prozent der weltweiten Unicorns, auf Deutsch Einhörner, also Start-ups mit über einer Milliarde US-Dollar Marktbewertung, stammen aus Europa, rund 50 Prozent aus Nordamerika und mittlerweile 36 Prozent aus Asien.

Schon vor einigen Jahren überholte China die EU, was die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung betrifft. Und während der Anteil europäischer Unternehmen an den weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung zurückgeht, bauen US-amerikanische und chinesische Konzerne ihren Anteil immer weiter aus.

Abhängig von Big Tech

Sollte uns das kümmern? Immerhin kommen Europäerinnen und Europäer auch ohne Entwicklungen aus der eigenen Heimat in den Genuss technischer und digitaler Neuerungen: Sie suchen bei Google, bestellen Waren auf Amazon, kaufen Macbooks und iPhones und streamen Filme und Serien auf Netflix. Langfristig jedoch gefährdet diese Entwicklung Jobs und Wachstum in Europa, warnen Expertinnen und Experten. Die EU wird nicht nur zunehmend abhängig von Techgiganten aus den USA und China, sondern verliert auch immer mehr die Fähigkeit, globale Regeln und Standards für Unternehmen zu beeinflussen, so die Befürchtung.

Dabei ist es nicht so, dass Europa keine prominenten Namen vorzuweisen hätte: Europäische Unternehmen wie der Technologiekonzern Siemens, der Flugzeugbauer Airbus, der Lebensmittelhersteller Unilever, das Luxuskonglomerat LVMH oder der Möbelhersteller Ikea entwickeln Produkte, die beinahe überall auf der Welt nachgefragt sind. Aber gerade wenn es um E-Commerce, künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge oder Blockchain geht, also jene Bereiche, in denen Fachleute einige der größten Wachstumschancen für die Zukunft sehen, bleibt die EU bei großflächigen Innovationen regelmäßig hinter den USA und immer öfter auch China zurück.

An innovativen Ideen und Unternehmen mangelt es nicht. So stammen etwa der Musikerkennungsdienst Shazam, der Videochat-Anbieter Skype oder das Schlaf-Tracking-Unternehmen Beddit allesamt aus Europa – nur um ein paar Jahre später von US-amerikanischen Techgiganten wie Apple oder Microsoft geschluckt zu werden. Und selbst der schwedische Musikstreamingdienst Spotify wirkt mit seinen 380 Millionen Nutzern klein, wenn man Umsatz und Marktwert mit Apple und Co vergleicht.

Gespaltener Binnenmarkt

Die Ursachen für diese Entwicklung sind laut Fachleuten vielseitig: Obwohl die EU bemüht ist, den europäischen Binnenmarkt weiter auszubauen, bleibt dieser oftmals bruchstückhaft – unterschiedliche nationale Gesetzgebungen, Regulierungen und Steuersysteme machen es Start-ups schwer, ihre Produkte und Dienstleistungen schnell quer über den Kontinent zu verkaufen.

Hinzu kommt ein schwierigerer Zugang zu Risikokapital: Der Risikokapitalmarkt in der EU ist siebenmal kleiner als jener in den USA. 90 Prozent davon konzentrieren sich in lediglich acht Mitgliedsstaaten. Auch das Kapital während der Gründungs- und Anfangsphasen von Unternehmen ist in den USA um ein Vielfaches höher als in der EU, heißt es in einem Bericht.

"Zwei von drei Unternehmen fällt es schwer, qualifizierte Tech-Mitarbeiter in der EU zu finden", sagt Cecilia Bonefeld-Dahl, Generaldirektorin von Digitaleurope, einem Interessenverband, der 36.000 digitale Unternehmen in Europa vertritt, im STANDARD-Gespräch. Es gebe keine gute Strategie, Fachkräfte aus dem Ausland anzuziehen und in Europa zu behalten. Zudem mangle es in Europa an Risikobereitschaft, in zukünftige Technologien zu investieren. Durch den gespaltenen Kapital- und Binnenmarkt würden viele Unternehmen auf der nationalen Ebene stecken bleiben oder ihre Geschäfte gleich in die USA oder andere Länder verlagern.

Kein Silicon Valley

Die EU kann und muss nicht zum neuen Silicon Valley werden, man könne den USA nicht in allen Bereichen nacheifern, kontern einige EU-Vertreter. Immerhin gehe man in der EU einen eigenen Weg, etwa beim Daten- oder Klimaschutz. Tatsächlich gehören die Klimaschutzziele und -vorgaben der EU zu den ambitioniertesten weltweit. Von Regierungen werden seit Jahren Milliarden Euro gezielt in grüne Technologien gesteckt, in immer mehr Ländern müssen sich Unternehmen an steigende CO2-Preise anpassen. Und mithilfe des sogenannten Digital Services Act soll es bald auch mehr Transparenz bei Digitalplattformen und einen noch besseren Schutz von Bürgern und deren Rechten im Internet geben.

Auch die Rolle des Staates wird in der EU anders interpretiert: Spätestens seit der Pandemie erlebt der Staat eine Renaissance in seiner Rolle als Investor. Das zugrundeliegende Verständnis: Innovation sollte nicht kurzfristigen Profitinteressen folgen, sondern gezielt von Staaten anhand gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder ökologischer Ziele gefördert werden.

Innovation als Nebenprodukt

Dass dadurch automatisch bessere Ergebnisse erzielt werden, ist aber nicht gewiss. Immerhin lehrt die Vergangenheit, dass große und wichtige Entdeckungen und Fortschritte immer wieder auch als Nebenprodukt von scheinbar unbedeutenden Forschungen entstehen. Und wenn die aktuelle Situation eines zeigt, dann, dass sich viele bahnbrechende digitale Innovationen nach wie vor zuerst einmal außerhalb Europas durchsetzen.

Was müsste die EU tun, um bei den größten Techentwicklungen unserer Zeit verlorene Meter wiedergutzumachen? Die möglichen Rezepte dafür sind vielseitig, sagt die Fachwelt: mehr Möglichkeiten für Unternehmen bereitstellen, an Risikokapital zu gelangen, den europäischen Binnenmarkt stärken, was vor allem auch eine Frage der Bereitschaft der Mitgliedsländer ist, die öffentlichen und privaten Ausgaben für Forschung und Entwicklung nach oben schrauben, hochqualifizierten Arbeitskräften die Einreise erleichtern, die Digitalisierung in Unternehmen und deren Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungseinrichtungen stärken.

Testräume für Innovationen

"Es braucht einen gleichen Zugang zu Daten und eine EU-weite Institution, die diese Daten zur Verfügung stellt", sagt Bonefeld-Dahl. Diese Daten müssen repräsentativ und sicher sein. Zudem brauche es mehr Testräume, in denen Unternehmen und Wissenschafter neue Entwicklungen ausprobieren können, die bei bestehenden Regulierungen kaum durchsetzbar wären. Innerhalb dieser sicheren Testrahmen sollen sich Chancen und Risiken von Innovationen besser erkennen lassen, ohne Schaden in der Bevölkerung anzurichten. Aktuell werden in solchen Testräumen in Europa etwa fahrerlose Shuttle-Busse getestet oder Szenarien für eine bessere Energiewende durchgespielt.

Dass Europa viel Potenzial für Innovationen hat, liegt für die meisten Fachleute auf der Hand. Der Kontinent ist Heimat von einigen der besten Universitäten und Forschungseinrichtungen der Welt, vielen innovativen Unternehmen und einem gut entwickelten Bildungssystem. Aber um im globalen Wettbewerb zukunftsträchtiger Industrien mithalten zu können, muss der Kontinent künftig noch wesentlich mehr tun. (Jakob Pallinger, 22.1.2022)