Weltmuseum-Direktor Jonathan Fine wird der neunköpfigen Expertenrunde vorstehen, die ein Regelwerk zum Umgang mit kolonial belasteten Kulturgütern entwickeln soll.

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Seit der Dekolonisierungswelle der 1960er-Jahre wird auch das Thema der Rückgabe von kolonial belasteten Kulturgütern, die entweder geraubt oder in einem anderen Unrechtskontext angeeignet wurden, diskutiert. In den Museen des globalen Nordens lagern Millionen völkerkundliche Objekte, großteils wissenschaftlich gehegt und gepflegt, teils aber auch unbehelligt in den Kellern.

Nachdem die Debatte zwischenzeitlich nahezu verstummt war, erhielt sie in den letzten Jahren deutlichen Auftrieb. Zum Symbol avancierten die sogenannten Benin-Bronzen, die 1897 bei einem britischen Kolonialkrieg gegen das damalige Königreich Benin, heute Teil Nigerias, erbeutet und an sämtliche interessierten europäischen Mächte verhökert wurden. Frankreich und Deutschland sind nun im Begriff, Objekte aus dieser kolonialen Kriegsbeute zurückzugeben – allerdings mehr symbolisch als systematisch, denn allgemein anwendbare gesetzliche Grundlagen dafür haben beide bisher nicht erlassen.

Zuerst Regelwerk, dann Rückgaben

Österreich, das zwar nicht zu den früheren Kolonialmächten gezählt wird, aber am damaligen Markt kräftig zugegriffen hat, versucht nun eine eigene Position zu entwickeln, nach dem Motto: Zuerst das Regelwerk und die Erforschung der Bestände, danach die Rückgaben – so sie denn erfolgen werden, denn entscheiden muss in jedem Fall letztlich die Politik.

Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) installiert nun ein neunköpfiges Expertengremium, das sich mit allen Fragen zum Thema beschäftigen und der Politik bis zum Frühjahr 2023 Vorschläge für ein entsprechendes Gesetz machen soll. Den Vorsitz übernimmt Jonathan Fine, der im Austausch mit dem Ministerium auch die weiteren Mitglieder auswählen durfte. Fine, gebürtiger US-Amerikaner und zuvor beim Ethnologischen Museum in Berlin tätig, ist seit vergangenem Sommer Direktor des Weltmuseums Wien. Mit seinen ethnografischen Sammlungen, darunter auch 180 Benin-Objekte, steht das Haus im Zentrum der hiesigen Debatte.

Im Gespräch mit dem STANDARD ist es Fine wichtig zu betonen, dass es sich bei dem nun aufgesetzten Prozess um "keine Verzögerungstaktik" handle, eigentlich sei Wien stets Vorreiter gewesen. "Ohne die große Benin-Ausstellung 2007 im Weltmuseum, die nigerianische Partner einbezogen und schließlich zur Gründung der Benin Dialogue Group geführt hat, wäre diese Diskussion höchstwahrscheinlich nicht so in Gang gekommen", sagt Fine. "Man kann nun wie in Deutschland Einzelfälle daraus machen oder es systematisch angehen. Der österreichische Weg ist hoffentlich nachhaltiger, weil wir versuchen, ein breit anwendbares Regelwerk zu schaffen."

Man brauche diesen breiteren Rahmen, denn "am Ende muss das nicht nur von Politikern und Experten, sondern auch von der breiten Bevölkerung getragen werden. Und nicht alle werden damit einverstanden sein, das ist klar."

Erfahrung mit NS-Restitution nutzen

Ganz bewusst verweist Fine dabei auch auf die Erfahrungen mit dem international vorbildlichen Gesetz zur NS-Restitution von 1998. Ob am Ende auch beim Thema Kolonialismus eine ständig tagende Kommission entstehen könnte, die die Politik bezüglich Rückgaben berät, sei eine Frage, die man in dem Gremium klären will. Es werde auch keinesfalls nur um die Benin-Objekte gehen, sondern viel umfassender gedacht: "Es gibt viele Fälle, wo sich Österreich am Markt bedient hat, aber das unterscheidet sich zu Fällen, in denen die österreichische Kriegsmarine gesammelt oder wie im Boxerkrieg gegen Aufständische in China selbst Beute gemacht hat."

Entsprechend soll auch die Provenienzforschung in den betroffenen Museen vorangetrieben werden. Die Forschung dazu habe systematisch erst vor ein paar Jahren begonnen, im Weltmuseum möchte man nun prioritär die Sammlungen der k. k. Kriegsmarine aufarbeiten.

Perspektiven von innen und außen

Die übrigen Mitglieder, die Perspektiven von innen und außen einbringen sollen, sind: Barbara Plankensteiner, seinerzeit Kuratorin der Wiener Benin-Ausstellung, später Weltmuseum-Vizechefin und heute Direktorin des Hamburger Museums für Völkerkunde; Katrin Vohland, Direktorin des Naturhistorischen Museums, das sich vor allem mit der Problematik von "human remains" (sterblichen Überresten) konfrontiert sieht; Anna Schmid, Direktorin des Museums der Kulturen in Basel; Henrietta Lidchi vom Nationaal Museum van Wereldculturen in Rotterdam (die Niederlande gelten als juristische Vorreiter); Walter Sauer, Professor an der Uni Wien und Experte für österreichisch-afrikanische Beziehungen sowie Kolonialgeschichte; der Rechtshistoriker Miloš Vec von der Uni Wien sowie Fine selbst als ausgebildeter Jurist und Kenner der amerikanischen Gesetze zum Umgang mit Native Americans sollen juristische Expertise liefern.

Außereuropäische Perspektiven bringen Emmanuel Kasarhérou, seit 2020 Direktor des Pariser Völkerkundemuseums Musée du Quai-Branly und selbst aus Neukaledonien stammend, sowie Golda Ha-Eiros ein, die als leitende Kuratorin am Nationalmuseum Namibia Erfahrung im Umgang mit Kulturgütern mitbringt, die vom Genozid durch die deutsche Kolonialmacht belastet sind. Fine will in den Prozess zudem "Stakeholder" aus den betroffenen Communitys und Ländern einbeziehen und alle Ergebnisse transparent kommunizieren.

Seit 2019 Fokus auf Thema

Dass Österreich seine Anstrengungen in der postkolonialen Provenienzforschung verstärken möchte, wurde bereits 2019 in der Veranstaltungsreihe "Das Museum im kolonialen Kontext" sowie in geförderten Forschungsprojekten am Weltmuseum Wien, dem Naturhistorischen Museum, dem Technischen Museum und am Mak deutlich, deren Ergebnisse heuer veröffentlicht werden sollen. Eine Zahl von möglicherweise inkriminierbaren Objekten in Bundesmuseen könne derzeit nicht genannt werden, es gehe dem Expertengremium aber auch nicht um Zahlen und die Erstellung von Listen, sondern um die Schaffung von konkreten Grundlagen, sagt Fine. Oder, wie es ein Ministeriumspapier ausdrückt, um "solide Rahmenbedingungen für einen wissenschaftsbasierten, transparenten und sensiblen Umgang mit den Sammlungsbeständen aus kolonialen Erwerbskontexten".

Dass bloß wieder ein Expertenpapier entstehen könnte, das gelobt, aber nicht umgesetzt wird, glaubt Jonathan Fine nicht: "Es wäre sehr schade, wenn man diesen Weg geht und nichts daraus wird." (Stefan Weiss, 20.1.2022)