EU-Bürger, die hierzulande arbeiten, zahlen gleich viel in die Staatskasse wie Österreicher ein, bekommen an Familienleistungen aber nicht immer gleich viel heraus – offenbar zu Unrecht.

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Für Sebastian Kurz war es eines der symbolisch wichtigsten Vorhaben, um den ewigen Warnungen vor der "Zuwanderung ins Sozialsystem" Taten folgen zu lassen. Angesetzt hat er als Bundeskanzler bei der Familienbeihilfe. Die türkis-blaue Regierung passte 2019 diese Leistung ebenso wie verschiedene steuerliche Vergünstigungen für in Österreich arbeitende EU-Bürger an die Lebenshaltungskosten an jenen Orten an, wo deren Kinder dauerhaft leben. Gerade für Osteuropäer brachte das empfindliche Einbußen.

Doch Experten sahen in dieser "Indexierung" von Anfang an einen Widerspruch zu EU-Recht, die Europäische Kommission brachte im Zuge eines Vertragsverletzungsverfahrens im Mai 2020 Klage gegen Österreich ein.

Verstoß gegen Unionsrecht

Nun haben sich die Warnungen bewahrheitet: Richard de la Tour, Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH), stellt in seinem Schlussantrag zur Causa fest, dass die Indexierung gegen Unionsrecht verstoße. Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedsstaats sind, müssten in Österreich unabhängig vom Aufenthaltsort ihrer Kinder die gleichen Beihilfen und steuerlichen Vergünstigungen wie österreichische Arbeitnehmer erhalten können, so die Argumentation. Schließlich trügen diese in gleicher Weise zur Finanzierung des österreichischen Sozial- und Steuersystems bei wie österreichische Arbeitnehmer. De la Tour schlägt dem Gerichtshof deshalb vor, der Klage der Kommission stattzugeben.

Das letzte Wort ist damit aber noch nicht gesprochen: Die Rechtsgutachten der Generalanwälte sind für die finale Entscheidung des EuGH nicht verbindlich, der Gerichtshof kann auch zu einem anderen Urteil kommen. In der Regel folgt der EuGH aber den Schlussanträgen, verschiedene Quellen sprechen von einer Übereinstimmungsrate von zwei Dritteln und mehr.

Österreich drohen Nachzahlungen

Ist dies im aktuellen Fall genauso, könnten betroffene Bürger bis zu fünf Jahre rückwirkend Nachzahlungen der gekürzten Beträge beantragen, schreibt die Arbeiterkammer auf ihrer Homepage. Möglicherweise müssten die Kürzungen nach einem Urteil des EuGH aber auch von Amts wegen rückabgewickelt werden. Bei einer Verurteilung Österreichs wünsche er sich eine umgehende Rückzahlung der gekürzten Familienbeihilfe, hat EU-Kommissionsvertreter Martin Selmayr bereits deponiert.

Für leidtragende Familien lief die Indexierung – je nach Wohnort der Kinder – auf empfindliche Kürzungen hinaus. In Österreich beträgt der Grundbetrag der Familienbeihilfe für Kinder unter drei Jahren derzeit 114 Euro. Lebt das Kind hingegen dauerhaft etwa in der Slowakei, obwohl Vater und/oder Mutter hierzulande arbeiten, werden nur 81,05 Euro ausbezahlt. In Tschechien sind es 74,67 Euro, in Ungarn 65,55 Euro, in Rumänien 55,06 Euro und im Schlusslichtland Bulgarien 52,90 Euro. Auch Kinder in Italien (105,34) oder Deutschland steigen mit 108,64 Euro schlechter aus, mehr Geld gibt es hingegen in verschiedenen westlichen Ländern wie der Schweiz (158,69), Frankreich (115,60) oder den Niederlanden (117,53) sowie in den nordischen Staaten.

Dem Staat brachte die Indexierung im ersten Jahr der Umsetzung (2019) eine Ersparnis von 62 Millionen Euro statt erhoffter 114 Millionen. Das Prinzip blieb aber nicht auf die Familienbeihilfe beschränkt. Angewandt wird es auch auf den Kinderabsetzbetrag, den Familienbonus Plus, den Alleinverdienerabsetzbetrag, den Alleinerzieherabsetzbetrag und den Unterhaltsabsetzbetrag für Wanderarbeitnehmer. Das Gutachten des Generalanwalts schließt all diese Leistungen ein.

Rasche Reparatur gefordert

Eine erste Reaktion kam von der grünen Familiensprecherin Barbara Neßler. Sie begrüßt das Gutachten, da hinter der Indexierung die Haltung stehe, dass manche Kinder weniger wert seien: "Dies widerspricht jeglichem Gerechtigkeitsanspruch, den ein demokratischer Staat haben sollte." Die Regierung solle eine Reparatur vorbereiten, noch bevor die Entscheidung des EuGH vorliegt. Auch die Caritas, die Arbeiterkammer und die SPÖ fordern eine rasche Rücknahme der Regelung samt Rückzahlung. (Gerald John, 20.1.2022)