Wie weit kommt ein Reisejournalist, der derzeit kaum reisen kann, mit 10.000 Schritten? Einmal quer durch die Wiener Innenstadt zu den Anfängen des STANDARD vor 10.000 Ausgaben.

Foto: Corn

Der STANDARD feiert seine zehntausendste Ausgabe. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit der Zahl Zehntausend.

Einen Schritt vor, ein paar Ausgaben zurück – so geht’s beim Spaziergang durch Wien zu den Ex-Redaktionsstuben des STANDARD. Er führt durch wenige Bezirke, aber weit retour in der Geschichte des lachsrosa Blattes. Die STANDARD-Büros waren über die gesamte Innere Stadt verteilt, ehe die Gruppe im Dezember 2012 nach Wien Mitte in den dritten Bezirk übersiedelte.

Ich marschiere konsequenterweise von dort los, wo die meisten unserer Redaktion aktuell ihren Schreibtisch haben: im Homeoffice. Teile der Reiseredaktion des STANDARD arbeiten derzeit in der Nähe des Augartens – aus meiner Wohnung. Das ist gut 10.000 Schritte entfernt vom Ziel dieser Reise: "Am Gestade 1" im ersten Bezirk. Dort ist in den Tagen vor dem 19. Oktober 1988 die erste Ausgabe des STANDARD entstanden. Dazwischen gibt’s nur gute Geschichten, will ich mir auf dieser redaktionellen Wanderung beweisen.

Am Gestade
Foto: Sascha Aumüller

Unterwegs zücke ich das Smartphone, um zu recherchieren, was im STANDARD über Orte auf meiner Strecke geschrieben wurde. Beispiel gefällig? "Die Platanen sind besondere Bäume, fast wie Freunde", sagte Gerald Wirth, der künstlerische Leiter der Sängerknaben, im Dezember 2021 im STANDARD über einen 200 Jahre alten Baum im Augarten. Dieser sollte gefällt werden, wurde aber in letzter Minute gerettet. Um den Freund (also den Baum) überhaupt sehen zu können, muss ich über eine hohe Mauer lugen. Sie schirmt das Hauptquartier des Knabenchors vor der schlechten Welt da draußen ab.

Geheimtipp mit Rekord

Das älteste Hotel Wiens in der Taborstraße 12 ist eine offensichtlichere Sehenswürdigkeit. Der STANDARD hat das seit Juli 1600 existierende Hotel Stefanie unzählige Male erwähnt. Zuletzt wieder im Oktober 2020 und selbst da noch als "Geheimtipp", weil der Rekord, das älteste Wiener Hotel zu sein, lange konsequent von der Stadt verschwiegen wurde. Doch was sehe ich da, rechts vom Eingang? Eine offizielle Tafel der Stadt Wien kennzeichnet das Gebäude nun als historisch.

Hotel Stefanie in der Taborstraße 12
Foto: Sascha Aumüller

Vom Schwedenplatz über den Ring kommend, schaue ich von der Stubenbrücke auf das aktuelle Redaktionsgebäude – und wieder aufs Smartphone: Der Blogger Alexander Fried, der auch im STANDARD publiziert, stellt historische Aufnahmen aus Wien aktuellen gegenüber. Auf einem Foto aus dem Jahre 1905 ist an der Adresse Vordere Zollamtsstraße 13 das ehemalige Bürgertheater zu sehen. Ab 1926 trat hier Fritz Grünbaum auf, einer der bedeutendsten Kabarettisten der Zwischenkriegszeit, der 1941 im KZ Dachau ermordet wurde. Ein Operettentheater an diesem Ort? Das wusste ich tatsächlich nicht.

Homebase Herrengasse

Über Wollzeile, Stephansplatz und Graben ist nach einer guten Viertelstunde die zeitlich längste Homebase des STANDARD erreicht: die Herrengasse. 1990 bezog die Redaktion die Hausnummern 1–3, sieben Jahre später wechselte die gute Schreibstube in die Herrengasse 19–21, bis 2012. Vom mittlerweile verschwundenen Café Griensteidl am Anfang der Gasse erzählt man sich, dass dort in Wissenszweifelfällen die Kellner gebeten wurden, den Brockhaus zu bringen. Eine gute Adresse für Redakteure vor dem Internet.

Michaelerplatz mit Blick auf das ehemalige Café Griensteidl
Foto: Sascha Aumüller

Im Palais Trauttmansdorff am Ende der Gasse, das einst das Hotel Klomser beherbergt hat, soll sich 1913 Oberst Alfred Redl im Zuge der Spionageaffäre erschossen haben. Eine gute Adresse für Chronik -Redakteure, auch in Zeiten des Internets. Und es sind gleich zwei gute Geschichten auf engstem Raum. In den 10.000 Ausgaben des STANDARD kam das Stichwort "Herrengasse" aber sogar 21.748-mal vor. Nicht, weil die Redaktion so gerne über sich selbst schreibt, sondern weil hier Ministerien untergebracht waren und sind.

Die letzten Meter bis zur allerersten Adresse des STANDARD am Gestade führen durch den Tiefen Graben vorbei am legendären Stundenhotel Orient. Was fand ich über diese Adresse, den heutigen Sitz der Europäischen Gesellschaft für Radiologie, in den Archiven der Zeitung? Eine feine Geschichte über einen Stadtspaziergang auf den Spuren des Films Before Sunrise, 25 Jahre nach den Dreharbeiten. In dem Movie flaniert der junge amerikanische Journalist Jesse (Ethan Hawke) mit der Französin Céline (Julie Delpy) durch Wien – auch zur Adresse am Gestade. Und, hat der (Film-) Journalist die Kollegen vom STANDARD besucht? Ach, die waren ja schon umgezogen. (Sascha Aumüller, 21.1.2022)