Das Gesetz wird die größten Tech-Konzerne betreffen.

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Die wenigsten außerhalb des EU-Parlaments wissen noch davon, und doch könnte es europäische Leben nachhaltig verändern. Zumindest sofern man davon ausgeht, dass sich besagte Leben mittlerweile zu einem sehr großen Teil – in pandemischen Zeiten sogar hauptsächlich – in der digitalen Welt abspielen. Der Digital Services Act (DSA) der EU schickt sich nämlich an, dem Treiben im World Wide Web erstmals seit 20 Jahren strengere Regeln vorzuschreiben. Dem "Digitalen Wilden Westen" ein Ende bereiten, nennen es dem Gesetzestext zugeneigte EU-Parlamentarier in Straßburg und Brüssel. "Was im realen Leben verboten ist, muss auch in der digitalen Welt verboten sein", sagen sie immer wieder. Hassreden, Verleumdungen, Gewaltandrohungen, Morddrohungen, politische Radikalisierung, man suche sich eine Straftat aus.

Das Vorhaben ist nicht weniger als der Versuch, jahrelang verabsäumte Regulierung in der digitalen Sphäre nachzuholen. "Und wahrscheinlich brauchen wir in fünf Jahren schon wieder ein großes Update", sagt der österreichische EU-Abgeordnete Andreas Schieder. Er war für die Sozialdemokraten mitverantwortlich dafür, den Gesetzestext zu dem zu machen, was er nach der Absegnung am Donnerstag ist: eine Verhandlungsposition für den Trilog, wo er im Dreier-Pingpong zwischen Kommission, Rat und Parlament noch mal Schritt um Schritt ausverhandelt wird, bevor er EU-Recht und damit irgendwann auch österreichisches Recht wird.

Auch nach der Abstimmung vom Donnerstag ist deshalb nicht hundertprozentig klar, ob es bis zur finalen Lesung Mitte des Jahres wirklich jene große Revolution wird, die die großen Digitalkonzerne erstmals an die kurze Leine nimmt, oder eben nur ein verwässerter Text mit mehr Schlupflöchern als ein Emmentaler. Schieder aber glaubt, dass der große Widerstand ausbleibt. Das Parlament habe den Vorschlag der Kommission in vielen Bereichen deutlich verbessert, ohne alles im Internet regulieren zu wollen.

Einschränkung des Werbe-Trackings

So wie es aktuell aussieht, werden Tech-Giganten wie Facebook, Google und Amazon bei Androhung von saftigen Strafen aber zahlreiche Auflagen gemacht: Da geht es etwa um einen verpflichtenden Risikobericht, der die Auswirkungen der eigenen Algorithmen auf Nutzerinnen untersucht, wenn massenhaft Fake News wieder einmal Demokratien destabilisieren. Es geht um die Pflicht, bestimmte Inhalte zu löschen, sobald ein Gericht sie für illegal befindet. Wenn Männer Vergewaltigungsdrohungen aussprechen und glauben, damit ungestraft davonzukommen. Da geht es aber auch um das Verbot von gezielter Werbung bei unter 18-Jährigen. Wenn die 13-jährige Schwester auf Instagram scrollt, soll sie diese nur noch zufällig eingespielt bekommen. Aber eben nicht mehr solche, die auf dem Wissen aufbaut, dass sie eine Teenagerin ist und ihr deshalb neueste Pflegeprodukte für eine schönere Haut oder Apps für einen flacheren Bauch vorschlägt.

Linke Parteien im EU-Parlament wollten das Ausspielen gezielter Werbung gar generell verbieten, scheiterten aber am Widerstand konservativer Parteien, "die einen guten Mittelweg, einen fairen Kompromiss" sehen. ÖVP-Abgeordnete Barbara Thaler betonte ihrerseits wiederholt, dass man mit "dem digitalen Frühjahrsputz im Internet" nicht alles sofort regulieren und vor allem keine kleinen Unternehmen drangsalieren wolle. Deshalb werde das Gesetz auch keine Kleinen treffen. Mittlere könnten um Ausnahmeregelungen bei der EU-Kommission anfragen. Und die größten Spieler am Markt müssen nun einmal dran glauben, so der Tenor. 20 Jahre nach der E-Commerce-Regelung sei ein Update aber längst überfällig, so Thaler.

Mehr Transparenz

Der DSA soll eine solide Ausgangsbasis für tiefergehende Regulierungen sein. Ein essenziell wichtiger Punkt ist dabei eine Steigerung der Transparenz. Nutzern betroffener Dienste soll in verständlicher Sprache erklärt werden, warum ihnen bestimmte Inhalte angezeigt werden und andere nicht. Um die möglichen Risiken von Plattformen beurteilen zu können, sollen außerdem die Aufsichtsbehörden Zugang zu Daten von Algorithmen erhalten, um überprüfen zu können, ob diese bestehende Regulierungen einhalten. Selbiges gilt für ausgewählte Forschungsinstitute und gemeinnützige Organisationen. Um die Entstehung von Risiken nachvollziehen zu können, sollen diese Zugriff auf Schlüsseldaten erhalten.

Woher genau das viele Know-how für etwaige Bewertungen und Einschätzungen kommen soll, ist aktuell noch ebenso unklar wie die Antwort auf die Frage, wer alles wirklich mitentscheiden soll – und welche Metadaten diese Personen brauchen. In ihrem Kampf gegen Fake News und Hassrede fordern Extremismusforscherinnen und -forscher allerdings schon länger eine Offenlegung der Algorithmen. Nur so könne man laut ihnen der Problematik nachhaltig entgegentreten.

Auch in Sachen Moderation sieht der DSA eine Reihe von Nachschärfungen vor. Welche Inhalte Facebook und Co löschen und welche nicht, entscheiden diese derzeit nach selbst auferlegten Richtlinien. Für Außenstehende ist es unmöglich nachzuvollziehen, warum bestimmte Beiträge online bleiben dürfen und andere nicht. Künftig sollen die Entscheidungen anhand von EU-weit gültigen Regeln getroffen werden, stets unter Wahrung der Meinungsfreiheit. User müssen zudem über eine Sperre oder Löschung informiert werden, damit sie diese über eigens eingerichtete Streitbeilegungsstellen anfechten können.

Mehr Sicherheit beim Onlineshopping

Aber auch Verkaufsplattformen wie Amazon sollen zu mehr Verantwortung verpflichtet werden. Der Shoppingriese betreibt neben dem Direktvertrieb einen Marktplatz für Drittanbieter, die laut DSA künftig nachverfolgbar sein müssen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass keine gefälschten Produkte verkauft oder Kunden anderweitig betrogen werden. Die geplante Umsetzung dieser eigentlich guten Idee sei allerdings nicht weitreichend genug, sagt Daniela Zimmer von der Arbeiterkammer gegenüber dem STANDARD. Plattformen wären laut ihr nämlich weiterhin haftungsbefreit. Zwar müssten Amazon und Co die Angaben von Händlern überprüfen. Kommt es dennoch zu Betrug, könne man sie aber nicht zur Verantwortung ziehen. Geschuldet ist diese Passage wohl auch dem Kompromiss im EU-Parlament, der sich zwischen strengen und soften Regulatoren erst herausbilden musste.

Auch die Gestaltung von Webseiten soll zugunsten der Nutzer bestimmten Regeln unterworfen werden. Der Vorschlag des Parlaments sieht diesbezüglich vor, sogenannte "Dark Patterns" zu verbieten. Dabei handelt es sich unter anderem um "die ausbeuterische Gestaltung von Wahlmöglichkeiten" auf Webseiten, die Besucher zu einer bestimmten Entscheidung – etwa dem Kauf eines Produkts oder auch der Zustimmung zu einem Abonnement – verführen sollen. Allesamt Ideen für mehr Konsumentenschutz.

Lob und Kritik

Im Großen und Ganzen habe das EU-Parlament laut Christoph Schmon von der Grundrechtsorganisation Electronic Frontiers Foundation (EFF) aber gute Arbeit geleistet. Statt auf Überwachung setze dieses auf mehr Transparenz und professionellere Inhaltskontrollen. Sorgen bereite der EFF, dass der DSA "Industrieverbänden und Strafverfolgungsbehörden zu viel Vertrauen entgegenbringt".

Jan Penfrat von der Bürgerrechtsorganisation EDRi hebt positiv hervor, dass Plattformen "in Zukunft keine als besonders sensibel geltenden Daten mehr für das gezielte Ausspielen von Tracking-Werbung benutzen" dürfen. Allerdings hätten es die Abgeordneten versäumt, Nutzerinnen durch Interoperabilität mehr Kontrolle über ihre Social-Media-Timelines zu verschaffen. Diese hätte laut dem Experten die Implementierung von vertrauenswürdiger Drittanbietersoftware erlaubt, die Inhalte sortiert, moderiert und empfiehlt.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dessen Land aktuell auch die Ratspräsidentschaft innehat, ist jedenfalls willens, das Gesetz zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Das bekräftigte er am Mittwoch in seiner Rede vor dem EU-Parlament. Laut ihm werde dieser Gesetzestext nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch unsere Demokratie besser schützen. Es wäre nicht nur ein Erfolg für ihn und die Ratspräsidentschaft der Grande Nation, sondern auch ein großer Schritt für die europäische Bevölkerung und ihre Rechte im Netz. (Fabian Sommavilla, Mickey Manakas, 20.1.2022)