"Diebe, Mörder, Vergewaltiger." Für seine Aussagen über unbegleitete Minderjährige aus dem Maghreb, die Éric Zemmour im rechtslastigen TV-Sender CNews getätigt hatte, ist der 63-jährige französische Publizist – und neuerdings Präsidentschaftskandidat – zu einer Strafzahlung von 10.000 Euro verurteilt worden. Die zuständige Staatsanwältin befand, Zemmour habe "die Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit überschritten".

Éric Zemmour, selbsternannter Nonkonformist, sucht am rechten und rechtesten Rand der französischen Gesellschaft nach Stimmen für die Präsidentschaftswahlen. Das endet mitunter vor Gericht.
Foto: EPA / Christophe Petit Tesson

Zemmour legte Berufung ein. Er habe "keine Rasse oder Ethnie" angegriffen, weshalb der Tatbestand gar nicht zutreffen könne. Das letztinstanzliche Urteil wird erst nach den Präsidentschaftswahlen, also nicht vor April, erwartet.

Dieser Prozess war nur das Vorspiel zu einem zweiten Gerichtsfall, der am Donnerstag begonnen hat. Der Verdacht lautet auf "Abstreiten eines Verbrechens gegen die Menschheit". Zemmour hatte ebenfalls auf CNews erklärt, der Vorsteher des Vichy-Regimes, Philippe Pétain, habe im Zweiten Weltkrieg "französische Juden gerettet". Damit rehabilitiert er in gewissem Sinn die mit den Nazis kollaborierende Staatsführung, die nach der Niederlage gegen Hitler 1940 von Paris in die zentralfranzösische Bäderstadt Vichy umgezogen war.

Wie Jean-Marie Le Pen

Zemmour stellt die offizielle, weitgehend unstrittige Geschichtsschreibung infrage, die zwischen dem feigen Kollaborateur Pétain und dem heroischen Résistance-Kämpfer Charles de Gaulle entschieden hat. Ungesagt übernimmt er die hanebüchene These der extremen Rechten und des Front-National-Gründers Jean-Marie Le Pen: Pétain sei Frankreichs "Schild" gewesen, de Gaulle das "Schwert"; in nationaler Arbeitsteilung hätten sie zusammen gegen die Nazis gekämpft.

Ist faktisch etwas dran an Zemmours Aussage? Nur auf den ersten Blick. Aus Frankreich sind unter dem Vichy-Regime proportional weniger Juden – 70.000 – in die Vernichtungslager Osteuropas deportiert worden als zum Beispiel aus Belgien und den Niederlanden. Das ist aber nicht Pétains Verdienst, sondern erklärt sich ganz einfach aus dem Umstand, dass Frankreich nur zur Hälfte besetzt war. Viele französische Juden konnten sich deshalb in den Süden absetzen. Dies wiederum erklärt, dass unter den 70.000 deportierten Juden 50.000 Ausländer waren – hauptsächlich sprachunkundige Polen, Deutsche und Russen, die rasch in die Fänge der französischen Polizei gerieten.

In den sicheren Tod geschickt

Pétain schützte auch die französischen Juden nicht: Im Gegenteil, er verfolgte und beraubte sie ab 1940 mit offen antisemitischen Gesetzen. Als die Nazis 1942 die "Endlösung" vorantrieben, lieferte sein Regime mehr Juden dem sicheren Tod aus, als die deutschen Besatzer verlangt hatten. Davon zeugt die bekannte Razzia des Vel d'Hiv: In diesem Pariser Sportstadion wurden 13.000 Juden zusammengetrieben, darunter 4.115 Kinder. Sie waren zu 80 Prozent Franzosen und wurden von Pétains Schergen nicht etwa beschützt, wie Zemmour behauptet, sondern in den sicheren Tod geschickt. Nur ganz wenige jüdische Kinder überlebten den Horror.

Zemmour verdreht damit schlicht die Fakten. Ein Gericht bestätigte vor einem Jahr, Pétain habe sich "an der von den Nazis betriebenen Politik der Judenvernichtung beteiligt". Zemmour wurde aus anderen Gründen freigesprochen, mit denen sich das Berufungsgericht am Donnerstag befassen muss.

Die historische Frage ist hingegen geklärt. Französische Historiker und namentlich auch der amerikanische Vichy-Spezialist Robert Paxton verwerfen Zemmours These. De Gaulles Enkel Pierre zeigte sich "schockiert": In Wahrheit sei sogar Hitler von der Judenhatz durch Pétains Gendarmen "überrascht" gewesen.

Absurde Theorie

Bleibt die Frage, warum sich Zemmour mit einer so kruden Theorie in die Nesseln setzt. Pétain-Forscher Pascal Ory vermutet, Zemmour versuche einen Brückenschlag von der klassischen hin zur extremen Rechten. Denn der Präsidentschaftskandidat, in Umfragen auf Platz vier, insinuiert letztlich, Pétain habe nicht antisemitisch, sondern "national" gehandelt, indem er versucht habe, wenigstens die französischen Juden zu verschonen.

Zemmour mag erkannt haben, dass historische Fragen in Wahlkämpfen bisweilen wichtiger sind als Steuern oder Renten. Pétain steht allerdings wirklich nur noch bei einer Handvoll Nostalgikern, Antisemiten und Nationalisten in Ehren. Viele könnten von Zemmour abrücken, auch wenn sie seine Hardliner-Thesen zu Immigration, Islam und nationaler Identität teilen. Zudem verscherzt es sich Zemmour mit der jüdischen Gemeinschaft; sie weiß, wie ihre Großeltern verfolgt wurden.

Selbst jüdisch-algerischer Abstammung, hatte Zemmour zuerst zahlreiche Juden für sich gewonnen, als er erklärte, viele Juden würden heute aus salafistisch unterwanderten Banlieue-Vierteln vertrieben. Aber er wirbt auch um die Antisemiten: So zweifelt er in der historischen Dreyfus-Affäre sogar die Unschuld des jüdischen Hauptmanns als "nicht eindeutig" an. Das mag provokant sein, doch einen Wahlkampf gewinnt man damit heute wohl nicht mehr. (Stefan Brändle aus Paris, 20.1.2022)