Doroteja Gradištanac tritt als Senderchefin von FM4 in die Fußstapfen von Monika Eigensperger, die den Sender seit seiner Gründung im Jahr 1995 als Vollprogramm geprägt hat.

Foto: ORF/Roman Zach-Kiesling

Wien – Gegründet 1995 als jüngstes ORF-Radioprogramm, ist die Bedeutung von FM4 für Österreichs Musikwirtschaft enorm. Der Anteil österreichischer Musik am Programm liegt bei 40 Prozent. Der Kultsender ist in die Jahre gekommen – und mit ihm die Hörerschaft, deren Durchschnittsalter bei 38 Jahren liegt. Der Kampf um die Jungen ist hart – zwischen Streaming, Podcasts und Privatradios. Der neue ORF-Generaldirektor Roland Weißmann will jetzt das Profil von FM4 nachschärfen. Doroteja Gradištanac (früher Roščić) arbeitet als neue Senderchefin an der Umsetzung.

STANDARD: Es gab ja in den letzten Monaten die Spekulationen und die Befürchtung, dass FM4 eingestellt oder zu Tode reformiert werden könnte. Die wichtigste Botschaft ist wohl: FM4 bleibt. Wie geht es jetzt weiter mit dem Sender?

Gradištanac: In Richtung einer strahlenden Zukunft natürlich (lacht). Abgeschafft wird FM4 ganz, ganz sicher nicht, weil der Sender eine Kernmarke des ORF ist, mit einem Publikum, das sich andere Marken wünschen. Es ist eigentlich kein Publikum, sondern eine Community. Schon alleine aus dem Grund waren das völlig zu Unrecht wabernde Befürchtungen.

STANDARD: Warum möchte der neue, bürgerliche ORF-Generaldirektor Weißmann reformieren? Ist ihm FM4 zu links?

Gradištanac: Die Reform eines Senders, der seit 25 Jahren aufgestellt ist, ist ein ganz normaler Vorgang. Man muss Formate abklopfen und schauen, ob sie aus der Zeit gefallen sind oder noch passen, man muss die Veränderungen des Marktes wegen der Streamingangebote berücksichtigen, die Mediennutzung der Jungen in Sachen UKW ansehen. Mein Auftrag ist, die Marke FM4 zu refreshen.

STANDARD: Schon alleine das ist eine große Veränderung.

Gradištanac: Die Radios sind innerhalb des ORF ein wahnsinnig wichtiges Angebot. Der Generaldirektor hat in seiner Bewerbung geschrieben, dass er den ORF von einem Broadcaster zu einer multimedialen Plattform entwickeln will, da kommt FM4 eine ganz wichtige Rolle zu. Alleine schon wegen des Soundmoduls, das auf dem ORF-Player starten soll und wo FM4 seine Inhalte noch besser an Mann und Frau bringen wird können. Man muss jedes Medium immer wieder neu denken.

STANDARD: Bei ORF-Chef Weißmann war von einer "zu spitzen Positionierung" des Senders die Rede. Was meint er damit?

Gradištanac: Der Ansatz eines Senders, der eine wunderbare Kulturberichterstattung hat, der eine wahnsinnig hohe Kompetenz in der Musik und Filmberichterstattung hat, oder beim Gaming, bei feministischen oder bei gender-queeren Themen, muss es sein, diese Inhalte einem Publikum näherzubringen, das so groß wie möglich ist. Schon alleine aufgrund der Qualität der Beiträge. Das ist möglich, ohne den Markenkern von FM4 auch nur im Geringsten zu verlassen.

STANDARD: Das heißt, dass die Inhalte gleich bleiben, die Ausspielung mit mehr Plattformen aber eine breitere werden soll. An wen richtet sich FM4?

Gradištanac: Das Kernpublikum von FM4 sind die moderneren, jüngeren Milieus, die sogenannten digitalen Individualisten und die Postmateriellen. Die sind in sich eine individualistische Lifestyle-Avantgarde. Sie definieren sich dadurch, dass sie sich vom Mainstream abgrenzen. Musik hat einen hohen Stellenwert, sie sind gut vernetzt, setzen auf Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein, soziales Engagement, Emanzipation. Das ist ja die Kernzielgruppe von FM4. Das möchte niemand ändern. Die journalistischen Kompetenzen sind, draufzukommen, was das Neue ist an diesem Tag, in diesem Monat. Das ist eh eine stetige Entwicklung.

STANDARD: Wollen Sie noch mehr auf Aktualität setzen?

Gradištanac: Mehr Aktualität und dadurch mehr Relevanz. Das würde ich mit gesellschaftspolitischer Aktualität beschreiben, die uns ausmachen muss. Gerade auch in der Kompetenzzone von FM4, etwa dem Klimajournalismus. Dass man da mehr am Puls der gesamtösterreichischen Zeit bleibt.

STANDARD: Das soll ein Angebot für junge Hörerinnen und Hörer sein? Der durchschnittliche FM4-Hörer ist 38 Jahre alt.

Gradištanac: Wenn man es richtig und gut macht mit den Themen und der Aktualität, dann klappt es auch mit den Jungen. FM4 ist einerseits UKW, hat aber auch noch weitere Ausspielungskanäle für sein Publikum. Von einem fantastischen Filmpodcast über unsere Social-Media-Angebote bis zum Liveradio via FM4-App auf dem Handy kommt man immer wieder in Berührung mit dem Sender. Es ist ja ein Universum. Wie jedes andere Medium müssen auch wir uns um Verjüngung kümmern, das ist ein ganz normaler Prozess. Ich kenne kein Medium, das mit seinen Gründungsmüttern und -vätern mitaltert. Es geht darum, qua Musik oder qua Themen neue Schichten zu begeistern.

STANDARD: Viele FM4-Redakteurinnen und -Redakteure sind seit den Gründungsjahren dabei. Braucht es neues, jüngeres Personal?

Gradištanac: Prinzipiell braucht man immer junge Leute. So hat das auch Generaldirektor Weißmann formuliert, dass wir junge Talente hereinlassen. Ein ORF, der auch noch morgen Relevanz haben möchte, braucht diese jungen Medienmacher, deren Lebensrealität wir thematisch widerspiegeln. Man braucht aber auch die Erfahrung dieser Gründungsgeneration, die das Rückgrat des Senders ist und immer war. Stuart Freeman beispielsweise ist auch keine 25 mehr und hat, egal wie alt er ist, immer eine Betty-White-Qualität. Die war immer cool. Es gibt so Menschen, bei denen es völlig egal ist, wie alt sie sind. Dieses Spannungsfeld zwischen Stuart Freeman und einer Dalia Ahmed beispielsweise ist eine unglaublich befruchtende Auseinandersetzung, wenn Generationen miteinander reden.

Doroteja Gradištanac ist seit 1. Jänner 2022 FM4-Chefin.
Foto: ORF/Hans Leitner

STANDARD: Die Schranken des ORF-Gesetzes stehen der angestrebten Verjüngung aber noch im Wege.

Gradištanac: Es ist nicht einfach, dass FM4 seinen Aufgaben gerecht werden kann, wenn man sich die rechtlichen Rahmenbedingungen ansieht. Podcasts beispielsweise sind ein Long-Tail-Produkt. Man glaubt auch immer, Youtube-Filmchen sind kurz und knackig, das stimmt nicht. Auf Youtube sind auch lange Formen erfolgreich. Das ist wie ein Bewegtbildarchiv. Die Podcasts sind nicht an Aktualität gebunden, wenn man sie aber nur sieben oder 30 Tage abrufen kann, wird einem die Möglichkeit verwehrt, den Qualitätscontent den Gebührenzahlern weiterhin zur Verfügung zu stellen.

STANDARD: Der Anteil österreichischer Musik liegt bei FM4 bei 40 Prozent, also deutlich über der freiwilligen Selbstverpflichtung von 33 Prozent, die der ORF mit der heimischen Musikwirtschaft vereinbart hat. Ist das schon das Limit, oder gibt es sogar noch Luft nach oben?

Gradištanac: Ich brauche jetzt nicht mit Bilderbuch oder Ähnlichem kommen, aber FM4 hat hier eine Rolle, die in diesem Land unfassbar wichtig ist. Nicht wegen der Quote, sondern aus Überzeugung werden österreichische Künstler zwischen Superstars aus L.A. und Manchester gespielt. Da wächst bei den Künstlerinnen und Künstlern das Selbstbewusstsein. Das ist unsere Rolle, das ist unser Auftrag. 40 Prozent sind super, aber ich finde, es ist immer Luft nach oben. Bei uns ist sie jedenfalls da. Ich nehme an, auch bei der österreichischen Musik, mit der das in Partnerschaft und innerhalb eines Vertrauensverhältnisses passiert.

STANDARD: Welche Musik hören Sie?

Gradištanac: Ich höre FM4-Musik. Manchmal gibt es Nuancen, die sich mir wegen meines Alters verwehren, aber alles, was von der guten alten, meiner Generation entsprechenden Punk-Seite kommt, mag ich sehr. Ich habe aber auch eine große Offenheit für neuere Angebote. Ich scheitere zum Beispiel an Spotify, weil ich kuratierte Playlists möchte. Ich bin die klassische FM4-Hörerin und brauche eine Ansage. Jemand soll für mich entscheiden, was läuft. Da hat mich mein FM4 nie im Stich gelassen. Von den Strokes bis zu österreichischer Musik taugt mir sehr viel.

STANDARD: Sind Sie dann seit Jahren passionierte FM4-Hörerin?

Gradištanac: Ja, dazwischen hatte ich auch andere Phasen. Wie man halt so Radio hört. Wenn einen etwas nicht so interessiert, schaltet man um – etwa auf Ö1. FM4 gab es aber immer. Ich bin 72er-Jahrgang und 1991 nach Wien gezogen, war aber am Wochenende oft in Linz und habe qua dieser Sozialisierung in der Kapu oder im Posthof diese Bands gehört. Der Flip von Texta ist ein Schulfreund von mir. Ein großer FM4-Moment war, als ich auf dem Sender Texta gehört habe, da habe ich gewusst: Die haben es geschafft. Das ist Hollywood (lacht).

STANDARD: Die FM4-Redaktion grenzt sich ja auch bewusst vom kommerziellen Ö3 ab. Gab es intern gegen Sie Vorbehalte, weil Sie eine Ö3-Vergangenheit haben?

Gradištanac: Nicht, dass ich wüsste, und ich glaube auch nicht, dass FM4 ein Problem mit Ö3 hat. Ich erlebe die Mitarbeiter als sehr offen und fair. Meine Vergangenheit beim Radio befähigt mich ja auch für diesen Job. Dort kommt meine Leidenschaft für das Radio her. Ich konnte bei Ö3 eine sehr gute, harte Schule des Radiomachens genießen. Das ist ein Vorteil und kein Nachteil.

STANDARD: Bei der nicht bindenden Redaktionsabstimmung hat sich die Mehrheit für den Ex-Marketingleiter Oliver Lingens ausgesprochen und nicht für Sie. Haben Sie schon das Vertrauen der Redaktion gewonnen?

Gradištanac: Ich finde es erstens total verständlich, dass man jemandem seine Stimme gibt, den man schon lange kennt und mit dem man gut gearbeitet hat. Das Vertrauen kann man nur gewinnen, indem man mit offenem Visier kommuniziert und seine Pläne darlegt. Es gibt keinen anderen Weg als die tägliche gemeinsame Arbeit. Die macht mir eine unglaubliche Freude. Bei FM4 sind fantastische Leute.

STANDARD: Vor Ihrer Bestellung zur FM4-Chefin wollten Sie Wiener ORF-Landesdirektorin werden, haben den Job aber nicht bekommen. Manche vermuten vielleicht, dass es Ihnen nur um einen beliebigen Karriereschritt geht und Sie gar nicht so für FM4 brennen.

Gradištanac: Ich verstehe, dass das von außen betrachtet erratisch wirkt. Zuerst Landesstudio Wien, dann FM4. Ich habe immer wieder als eine in der ORF-Frauen-Taskforce engagierte Feministin andere, jüngere Frauen aufgefordert, sich zu bewerben, aufzuzeigen, für ihre Ambitionen einzustehen. Deswegen habe ich gefunden, dass ich das selbst auch machen musste.

STANDARD: Nach dem Motto: Hauptsache ein Führungsjob?

Gradištanac: Wie der blöde Witz aus den 80er-Jahren, wo ein Manager mit den Schulterpolstern ins Taxi springt und sagt: Schnell, fahren Sie! Und der Taxilenker fragt: Wohin? Der Mann sagt wiederum, das ist wurscht, ich werde überall gebraucht. So habe ich das nicht gesehen. Es gab einfach ein Window of Opportunity, sich zu positionieren und zu kommunizieren, dass ich Führungsverantwortung übernehmen möchte. Zu dem Zeitpunkt, als das Landesstudio Wien ausgeschrieben war, wusste ich noch gar nicht, dass der Job bei FM4 vakant werden würde.

STANDARD: Wie wird man dann Senderchefin? Hat Ihnen Generaldirektor Weißmann oder Radiodirektorin Ingrid Thurnher gesagt, dass Sie sich bewerben sollen?

Gradištanac: Wenn einem jemand sagt: "Kannst du dir FM4 vorstellen?", bedeutet das nicht, dass man sich hinsetzt, ein fünfseitiges Mission-Statement schreibt und diese Entscheidung dann für sich trifft. Das muss man sich schon selber überlegen, und ich freue mich, dass man es mir zutraut. In diesem Fall passte das so gut mit der Leidenschaft für den Sender zusammen, dass ich mich beworben habe.

STANDARD: ORF-Chef Weißmann hat kürzlich gesagt, dass der ORF trotz Gebührenerhöhung in den nächsten fünf Jahren 200 Millionen Euro einsparen muss. Gibt es auch Sparvorgaben für FM4?

Gradištanac: Keine mir bekannten. Wir haben über inhaltliche Dinge gesprochen, nicht über Sparvorhaben.

STANDARD: Wie sehen die genau aus?

Gradištanac: Ziel ist, die Relevanz von FM4 etwa durch Digitalisierung und vermehrte Aktivitäten bei den Jungen zu stärken. Das entspricht der DNA von FM4.

STANDARD: Bleiben die englischsprachigen Nachrichten, ein Markenzeichen von FM4?

Gradištanac: Im ORF-Gesetz steht, dass der Sender mehrheitlich fremdsprachig zu sein hat. Wir haben gerade einen Prozess mit den Mitarbeitern gestartet, wo alles ergebnisoffen evaluiert wird. Ich bin nur davon überzeugt, dass wir erstens das Gesetz nicht ändern werden, und zweitens der Ansicht, dass die englischen Nachrichten ein Teil der Marke und der internationalen Allüre des Senders sind. Sie gehören zur DNA, und ich sehe keinen Grund, hier etwas zu ändern. Ich kann diese aufgescheuchte Empörung nach der Pensionierung Monika Eigenspergers nicht nachvollziehen, dass der ORF jetzt ein Radio Energy aus FM4 machen wolle. Ich weiß nicht, woher das kommt.

STANDARD: Die FM4-Community ist sehr schnell parat und sehr laut, wenn es um die Zukunft des Senders geht.

Gradištanac: Das ist ja das Wunderbare an ihr, sie möge so bleiben und noch viel lauter werden. FM4 ist niemandem egal, das ist der Traum jedes Senders. Das hat sich FM4 über die Jahre erarbeitet und verdient. Ich bin dankbar über jede Diskussion, die auf einer Faktenbasis stattfindet. Mir hat beispielsweise jemand gesagt: Der Job bei FM4 sei still und heimlich ausgeschrieben worden und man habe nur fünf Seiten in seiner Bewerbung schreiben dürfen. Nein, der Job war in der "Wiener Zeitung" ausgeschrieben. Das sind ganz normale Abläufe.

STANDARD: Welche Rolle kommt FM4 im multimedialen Newsroom zu, der 2022 auf dem Küniglberg in Betrieb genommen wird und der TV, Radio und Online zusammenführen soll?

Gradištanac: Der deutschsprachige Block der Nachrichten wird von dort kommen. Überschneidungen gibt es idealerweise etwa bei den O-Tönen einer Geschichte, die man senderübergreifend nutzen kann, dass man Know-how teilt. Aber das gibt es ja jetzt auch schon quer durch die ORF-Flotte für eine Mehrfachnutzung. Dann macht beispielsweise Ö3 eine Ö3ige Geschichte zu Novak Djokovic und FM4 eine eigene Geschichte. Die Zusammenführung des Newsrooms hat ja das Metaziel, dass der ORF die Ressourcen noch besser nützt und multimedial arbeitet.

STANDARD: Wie soll FM4 im Jahr 2025 aussehen?

Gradištanac: Es klingt gut, ist gut gelaunt, neue Bands und Künstler werden unterstützt, wir haben noch mehr jüngere Hörer, und es gelingen uns so Momente wie mein Texta-Moment oder als ich das erste Mal "Maschin" auf FM4 gehört habe. Für die Älteren muss das so gewesen sein, wie zum ersten Mal eine Beatles-Platte in der Hand zu haben. Es gibt so Momente, wo einem die Luft wegbleibt. Die wollen wir. (Oliver Mark, 21.1.2022)