Der STANDARD feiert seine zehntausendste Ausgabe. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit der Zahl Zehntausend.

Um ihr Gehalt gehe es ihr wirklich nicht, sagt Maria Knauder. Richtig reich werde man als Bürgermeisterin nämlich so oder so nicht. Aber es sei halt ein Sinnbild: 5023 Euro und 30 Cent verdient sie als Gemeindechefin von St. Andrä im Lavanttal. Ihr Vorgänger hat noch mehr als 7000 Euro brutto erhalten. Ein Stadt-Land-Pay-Gap: In Kärnten macht das Bürgermeistergehalt ab dem 10.001. Bewohner einen Riesensprung. Aber genau unter diese Hürde ist St. Andrä 2017 gefallen. Das hat die Gemeindepolitik auf den Kopf gestellt.

"In so einer großen Gemeinde ist der Job einfach hauptberuflich", sagt Bürgermeisterin Maria Knauder.
Foto: ferdinand neumüller

Knauder hat bis vor kurzem noch einen Dienst pro Woche in ihrem Brotberuf als Pflegerin auf der Intensivstation versehen, seit Jänner ist sie aber karenziert. Es sei sich einfach nicht mehr ausgegangen. "In so einer großen Gemeinde ist der Job einfach hauptberuflich", sagt die SPÖ-Bürgermeisterin mit rotem Schal, roter Maske und gutem Draht zum roten Landeshauptmann. Ob man sich um 10.000 Leute kümmern muss oder um 9850, sei für den Arbeitsaufwand egal.

St. Andrä kämpft gegen den Tod. Rund 800 der Bewohner sind über 80, und "wohin die Reise geht, das weiß man", sagt Knauder. Sie meint: ins Grab. Die demografische Realität ist eben nicht pietätvoll. 9850 Menschen leben heute in der Stadtgemeinde zwischen Saualm und Koralm, die Prognosen sagen einen heftigen Bevölkerungsschwund voraus: In drei Jahren sollen es nur noch 9500 Einwohner sein.

Stadthälfte, Landhälfte

87 Kommunen in Österreich haben mehr als 10.000 Einwohner, 2008 Kommunen liegen unter dieser Grenze. In diesen ländlichen Gegenden wohnt auch eine (knappe) Mehrheit der Menschen in Österreich: 4,6 Millionen Menschen. Der magische Zehntausender trennt in dieser Rechnung die Landhälfte Österreichs von der Stadthälfte.

Dennoch ist es natürlich eine willkürliche Zahl, die in der Statistik aber viel ausmacht: Während es in Österreich insgesamt einen Frauenüberhang gibt, sind die Bewohner kleiner Gemeinden öfter männlich. Sie sind auch älter und geben einen größeren Anteil ihres Einkommens für das Wohnen aus.

Zerspragelte Stadt

Stadt, Land – St. Andrä ist von beidem ein bisschen was: Formal gilt es als Stadtgemeinde, real befindet man sich hier aber auf dem Land. 1973 wurde die Stadt mit 64 umliegenden Ortschaften zusammengelegt. Bis heute macht das mitunter Probleme. Weil die Gemeinde so zerspragelt ist, plagt man sich etwa mit dem Breitbandausbau. Darüber hinaus müssen 270 Kilometer Straßen erhalten werden.

"Es beschäftigt die Bürger nichts mehr als der Straßenbau", sagt Vizebürgermeister Maximilian Peter (ÖVP). Es seien etwa schon tolle Konzerte veranstaltet worden, wo dann von manchen das Feedback gekommen sei: Na ja, das Geld hätte man auch in die Straßensanierung stecken können.

300.000 Euro fehlen

Es geht um viel Geld. In dem komplexen Verfahren, mit dem das Finanzministerium Geld an Österreichs Gemeinden verteilt, erhalten größere Kommunen mehr Budget pro Kopf. Eine große Stadt hat ja auch mehr Aufgaben und Ausgaben als eine kleine Gemeinde. Den Sprung, den die Berechnung dabei von Gemeinden mit 10.000 auf jene mit 9.999 Einwohnern macht, findet Bürgermeisterin Knauder aber zu groß – 300.000 Euro würden St. Andrä entgehen, seit man vierstellig ist. Ohne dass die Ausgaben in demselben Ausmaß gesunken wären.

Auf Dauer gehe sich das nicht aus: "Derweil stehen wir noch gut da, aber irgendwann fährst du gegen die Wand." Sie fordert einen sanfteren Übergang für Gemeinden, die unter die 10.000er-Grenze fallen – denn so bald wird die Stadt nicht wachsen. St. Andrä wieder größer werden zu lassen, ist kein Projekt für eine oder zwei Bürgermeisterinnenamtszeiten, sondern für eine Generation.

Moderne Pädagogik im Lavanttal

Apropos Generationen. Am Rand des Stadtzentrums von St. Andrä sitzt Maria Gritsch-Wastian mit neuen Ideen in einem alten Kindergarten. Zweigeschoßig hat man das Haus vor Jahrzehnten gebaut, mit breiten Gängen. Zu der Art und Weise, wie Gritsch-Wastian einen Kindergarten führen will, passt das überhaupt nicht mehr. Die Leiterin der vier Kindergärten der Stadt hat die Reggio-Pädagogik nach St. Andrä gebracht. Ihr Konzept hat einen offenen Kindergarten zum Ziel, ohne Gruppenunterteilungen, dafür mit Räumen, denen bestimmte Funktionen zugewiesen sind: Entdecken, Essenszubereitung, Rollenspiele, Atelier. Die Kinder entscheiden selbst, wohin sie gehen und was sie tun.

"Man muss manchmal die Sachen auf den Kopf stellen und sagen: Probieren wir etwas aus", sagt die Elementarpädagogin Maria Gritsch-Wastian.
Foto: ferdinand neumüller

In Zukunft soll das noch moderner gehen: Dann ziehen die Kinder auf einem großen Touchscreen ihr Foto auf eines der abgebildeten Zimmer, die Pädagoginnen sehen automatisch auf ihren Tablets, wo welches Kind sein sollte. Möglich macht das ein Neubau, der ganz auf Gritsch-Wastians Konzept ausgerichtet ist: "Man muss manchmal die Sachen auf den Kopf stellen und sagen: Probieren wir etwas aus", sagt die Elementarpädagogin. Die Gemeinde stehe hinter ihr und sei "interessiert und bereit, unkonventionelle Sachen umzusetzen".

Ein Kindergarten ist immer offen

Als sie 2011 nach St. Andrä kam, erzählt die Pädagogin, gab es sechs Kindergartengruppen. Heute seien es elf. Natürlich sei ein gutes pädagogisches Konzept in der Stadt attraktiv für junge Familien – wichtiger seien aber gute Öffnungszeiten, sagt Gritsch-Wastian: "Wenn ich hierherziehe, und ich habe keine Oma und auch kein soziales Netz – dann ist es beruhigend zu wissen: Ich muss mir um die Kinderbetreuung keine Sorgen machen." Außer an gesetzlichen Feiertagen, Weihnachten und Silvester habe in St. Andrä immer zumindest ein Kindergartenstandort offen.

Weiter draußen, in den Dörfern der Stadt, ist das Leben ein anderes als im Zentrum. Da ist kein Wirtshaus, oft keine Schule – aber fast immer eine Kirche. "Wir haben in den Dörfern einen unglaublichen Zusammenhalt", sagt Dechant Gerfried Sitar, der oberste Priester in St. Andrä. Er erinnert an die große kirchliche Tradition: Einst war die Stadt Bischofssitz, die kirchliche und die weltliche Entwicklung gingen lange Zeit Hand in Hand. Heute noch thront eine barocke Basilika im Zentrum, sie fasst rund 1300 Gläubige. "Bei großen Festen ist sie wirklich g’steckt voll", sagt Sitar.

"Symbiose" zwischen Kirche und roter Gemeinde

Taufen und Begräbnisse hielten sich in etwa die Waage. Eine katholische Privatschule bringe den Jungen die Kirche näher, aber auch Angebote wie Konzerte, Lesungen und Theater würden die Menschen anziehen: "Wir gehen da in die Offensive", sagt Sitar. Auch die Zusammenarbeit mit der SPÖ-geführten Gemeinde sei hervorragend.

Dechant Gerfried Sitar sieht in den Dörfern der Stadt einen "unglaublichen Zusammenhalt".
Foto: ferdinand neumüller

Das bestätigt auch Bürgermeisterin Knauder: "Es ist eine Symbiose." Wenn man mit der Kirche gut auskomme, gehe vieles gleich viel leichter. Abgesehen davon steht die Stadtchefin aber vor einer Reihe von Herausforderungen. Etwa die Sache mit den Straßen. "Mein Zugang wäre ja, einen Kredit dafür aufzunehmen und alles zu sanieren, damit einmal eine Ruh’ ist", aber wegen der strengen Maastricht-Kriterien die Verschuldung von Gemeinden betreffend sei das nicht möglich. So stopfe man halt einzelne Schlaglöcher.

Schlaglöcher und Gastro-Wüste

Oder der Leerstand. Die prominentesten Schaufenster in St. Andrä sind leer, sie machen den Blick auf verstaubte Geschäftslokale ohne Interieur frei. Die Geschäftsleute übersiedeln gerne ins angrenzende Wolfsberg, wo es größere Ladenflächen und etliche Parkplätze gibt. Will die Gemeinde etwas dagegen tun, ist sie auf das Entgegenkommen der Immobilienbesitzer angewiesen, die teilweise "verhaltensoriginell" seien und weder vermieten noch zu üblichen Preisen verkaufen wollen, sagt Knauder. Kaum eine Gemeinde in Österreich kennt das Problem nicht, Shoppingcenter auf der grünen Wiese verschärfen es noch zusätzlich.

Die barocke Basilika sei zu hohen Festen "g'steckt voll", berichtet Priester Sitar.
Foto: ferdinand neumüller

Dasselbe gilt für die Gastronomie: Das letzte traditionsreiche Gasthaus in St. Andrä hat zugesperrt, weil der Nachwuchs fehlt. Im Sommer sollen nun zwei junge Köche im Zentrum einziehen, "da freuen wir uns schon", sagt die Bürgermeisterin. Der Tourismus in St. Andrä sei verschlafen, "nein, nicht verschlafen: Softtourismus", bessert sie sich aus. Da wolle man in Zukunft Initiativen setzen.

Koralmtunnel soll Zuzug bringen

Große Hoffnungen setzen viele in St. Andrä in ein Loch im nahegelegenen Berg: Der Koralmtunnel soll ab 2026 vieles in der Region ändern. Vor allem rückt die steirische Landeshauptstadt ein gutes Stück näher ans Lavanttal: 20 Minuten soll die Fahrt von St. Andrä nach Graz in vier Jahren dauern. Da würden dann viele "merken, was für ein super Wohngebiet wir sind", glaubt Knauder. Im Lavanttal recht günstig leben und in Graz arbeiten, das Konzept sei doch attraktiv für junge Familien auf der Suche nach einem Lebensmittelpunkt.

Ganz langsam könnte man sich dann wieder an die so wichtige 10.000er-Grenze heranarbeiten. Auch wenn Knauder das nicht als Ziel vorgeben will. (Sebastian Fellner, 22.1.2022)