In dieser Milchkanne, gezeigt bei einer Ausstellung 2021 in Warschau, wurden die Ringelblum-Archive, siehe Text von Martin Pollack, aufbewahrt.

Foto: AFP / Wojtek Radwanski

Man denkt an Primo Levi, Eli Wiesel oder Imre Kertesz, an Schindlers Liste oder Jurek Beckers Jakob der Lügner und übersieht, dass in Polen die Auseinandersetzung mit dem Holocaust schon in den ersten Stunden danach begann. Dort hat die Literatur über den Krieg und die Okkupation grundsätzlich einen hohen Stellenwert.

Eines der ersten Zeugnisse, Zofia Nałkowskas Medaillons, erschien schon 1946. Dabei ist Nałkowska keine Autorin, die den Schrecken aus eigener Erfahrung erlebt hat. In den 1930er-Jahren war sie in Warschau als mondäne Salonière bekannt, mit ihren Romanen schrieb sie Literaturgeschichte und sie engagierte sich politisch.

1944 wurde sie Abgeordnete des polnischen Nationalrats, 1945 nahm sie an der Arbeit der Hauptkommission zur Untersuchung deutscher Verbrechen in Polen teil, besuchte Konzentrationslager und unterhielt sich mit Überlebenden. Aus dieser Tätigkeit schöpfte sie den Stoff für die als Medaillons bezeichneten acht Schicksale.

Zofia Nałkowska, "Medaillons". Erzählungen. Aus dem Polnischen von Marta Kijowska. 20,60 Euro / 144 Seiten. Schöffling & Co, 2021
Cover: Schöffling & Co

Es ist vermutlich zum ersten Mal in der Literatur, dass so direkt Zeugnis über die Shoah abgelegt wurde. Den knappen Erzählungen ist das Motto "Dieses Schicksal haben Menschen den Menschen bereitet" vorangestellt, und tatsächlich handeln die acht Texte von nichts anderem als der schrecklichen Natur des Menschen, sie erschüttern auf fast groteske Weise: mit knappen, oft minimalistischen Aussagen, lapidaren Feststellungen wie "Andere starben, sie nicht". Dabei wurde der Frau, von der hier gesprochen wird, am 1. Jänner 1943 ein Auge ausgeschossen. "Das war so ein Spiel der Deutschen, als sie Silvester feierten."

Form des Mitteilens

Nałkowskas Erzählen bedient sich der Form des Mitteilens, es ist abschnittweise O-Ton-Literatur, die Autorin verbindet die Aussagen ihrer Figuren, ohne sie zu kommentieren. "Ich brachte meinen Vater und meine Mutter zu dem Vergasungswagen", hört man einen Überlebenden von Chełmno berichten. Später erfährt man, dass er auch beim Ausheben der Massengräber mitarbeitete und dabei irgendwann auf die Leichen seiner vergasten Frau und Kinder stieß.

Wenn solches berichtet wird, tritt die Autorin als steuernde Erzählerin weitgehend zurück, sie beobachtet und hört in der Kommission den Menschen zu, "die wider Erwarten überlebt hatten", die Zeugen des Verbrechens wurden.

Die wohl eindringlichste Geschichte ist die der gescheiterten Flucht eines Ehepaares aus einem Deportationszug. Während er sofort erschossen wird, bleibt sie mit einer Schussverletzung im Knie neben dem Bahndamm liegen. Bewohner eines nahen Dorfes kommen, zwei polnische Polizisten. Ratlos stehen sie um die Frau herum. Die fleht die beiden Polizisten an, sie zu erschießen. Einer von ihnen tut es dann.

Schonungslose Direktheit

In schonungsloser Direktheit wird das Unfassbare in Worte gefasst, obwohl man sich fragen muss, wie man von alldem überhaupt erzählen kann. Etwa von den toten, halbtoten Körpern, denen Ratten die Eingeweide rausgefressen haben. "Bei manchen schlug noch das Herz." Das Unvorstellbare wird mit wenigen Strichen plastisch, in einer neuen, hybriden Form des Erzählens, die Dokumentarisches und Erzählerisches verbindet und die ganz bewusst mit bestehenden Erzähltraditionen bricht. Lange bevor in Polen das Genre der literarischen Reportage geschaffen wurde, hat Nałkowska diese Literaturform auf den Weg gebracht.

Aber auch thematisch hat sie neue Maßstäbe geschaffen. Ihre kleine Prosasammlung wurde zur Schullektüre, obwohl darin auch der Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft angesprochen wird. Im Ausland blieb die Autorin aber weitgehend unbeachtet, nach 1945 sorgten lediglich DDR-Verlage für einige Übersetzungen – als Erstes erschienen die Medaillons 1956 im Aufbau-Verlag.

Die jetzige Neuübersetzung bei Schöffling & Co macht das so wichtige Werk wieder zugänglich, und so beeindruckend Marta Kijowskas Übersetzung ist, stellt sich die Frage, warum man nicht an der ursprünglichen Übertragung festhielt, die immerhin von einem der hervorragendsten Übersetzer aus dem Polnischen, Henryk Bereska, besorgt wurde.

Düstere Elegie auf das Leben

Bereska, der über hundert Werke polnischer Literatur ins Deutsch übertragen hat, verdanken wir auch die Übersetzung eines der wichtigsten Texte zum "Schauplatz und Gedächtnisraum Polen": Bogdan Wojdowskis Opus magnum Brot für die Toten. 1971 in Warschau erschienen, konnte man den Roman bereits drei Jahre später auf Deutsch lesen – aber auch wieder nur in einem ostdeutschen Verlag, in der BRD mochte sich niemand dafür interessieren. Mit seiner eben begonnenen "Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur" sorgt der ambitionierte Wallstein-Verlag nun für eine nachhaltige Neuentdeckung.

Bogdan Wojdowski, "Brot für die Toten". Roman. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska. 24,70 Euro / 464 Seiten. Wallstein, 2021
Cover: Wallstein Verlag

Brot für die Toten ist eine düstere Elegie auf das Leben im Warschauer Ghetto. Wojdwoski schildert in einer überaus dichten Prosa die Zeit von 1940 bis 1942, jene Jahre, die er selbst dort mit seinen Eltern verbrachte. Während die Familie den Tod fand, vermutlich in Treblinka, war dem damals zwölfjährigen Wojdowski die Flucht auf die "arische Seite" gelungen, wo er sich bis zum Ende des Krieges unter dem Namen Bogdan versteckt hielt. Seinen eigentlichen Namen Dawid nahm er später nicht mehr an.

Aber der Protagonist seines Romans heißt so: David Fremde, ein ebenso Zwölfjähriger, der als Alter Ego des Autors von den Entbehrungen und dem armseligen Leben im Ghetto berichtet. David wird zum Chronisten, zum heimlichen Verfasser einer "Chronik des Hinterhofs". Aus seiner Perspektive wird der Ghettoalltag beschrieben: Hunger, Läuse, Typhus, das Sterben auf der Straße. Nicht nur die deutschen Besatzer machen das Leben schwer, im "Hinterhof" herrschen die Schmuggler, Kleinkriminellen, ein "Rudel von Bettlern" …

Epische Wucht

Expressionistisch, fast kafkaesk wird das Elend geschildert: "‚Kann ein Jude auch am Sonnabend sterben?‘ So fragte Lejbus. Und was haben wir heute für einen Tag? Die entblößten Skelette klapperten mit Blechbüchsen und stellten den Vorübergehenden keifend die Beine. Sie verfaulten in der Sonne. Auf die nässenden Wunden setzten sich violette Fliegen. Die Menschen verwandelten sich hier noch zu Lebzeiten in Aas."

Wie sollte man am Leben festhalten, "ohne an das Leben zu glauben"? Mit den Worten "Hier wird keiner lebend davonkommen" trägt der Großvater seinem Enkel auf, aus dem Ghetto zu fliehen. "David, vergiß, daß du Jude bist. Wenn man leben will, muß man es vergessen."

Renia Spiegel, "Tagebuch 1939–1942". Aus dem Polnischen von Joanna Manc. 26,80 Euro / 445 Seiten. Schöffling & Co, 2021
Cover: Schöffling & Co

Wojdowski selbst mag die Bedeutung dieses Satzes verinnerlicht haben, er polonisierte seinen Vornamen, aber vergessen konnte er nicht. Zehn Jahre lang schrieb er an diesem Roman, der durch Präzision und Detailreichtum besticht. Im Gegensatz zu Nałkowskas sparsam gezeichneten Medaillons schlägt hier ein Autor mit "epischer Wucht" zu.

Dazu gehört, dass Wojdowski seine Figuren in teils langen Dialogen sprechen lässt, in denen jüdische Narrative ebenso wie alltägliche Banalitäten Platz haben. Vor allem aber verzichtet sein Roman auf dramaturgische Effekte und setzt stattdessen gegen das Abgründige die Abstraktion.

Das macht Brot für die Toten zum literarischen Meisterwerk, das nur zu keinem glücklichen Zeitpunkt erschien, wurde doch um 1970 ein neuer Antisemitismus geschürt, der viele polnische Juden zur Ausreise zwang. Wojdowski blieb, arbeitete als Redakteur und war publizistisch tätig. Das Trauma und die "Schuld" des Überlebens aber ließen ihn nicht los. 1994 setzte er seinem Leben in Warschau ein Ende.

Berührendes Dokument

Eines der berührendsten Dokumente wurde überhaupt erst jetzt publik: das Tagebuch, das das jüdische Mädchen Renia Spiegel von 1939 bis 1942 führte. Schauplatz ist das galizische Przemýsl, wo Renia bei ihren Großeltern aufwächst. Sie ist zu Beginn des Tagebuchs 15 Jahre alt, schreibt gerne, vor allem Gedichte, und wie bei Anne Frank ist das Tagebuch auch ein Ort jugendlicher Gefühle.

Noch bevor Renia 1942 mit ihrer Familie ins Ghetto muss, verliebt sie sich in den zwei Jahre älteren Zygmunt Schwarzer, der aktiv im Widerstand tätig ist und dem es gelingt, Renia aus dem Ghetto zu schmuggeln. Wenige Tage später wird das Versteck, in dem sie Zuflucht findet, verraten und Renia am 30. Juli 1942 – da war sie gerade einmal 18 – gemeinsam mit Zygmunts Eltern erschossen.

"Marischa – mehr als ein Wunder. Eine Überlebensgeschichte", Nach mündlichen Berichten von Maria König aufgezeichnet von Antje Leetz. 20,60 Euro / 166 Seiten. Wallstein, 2021
Cover: Wallstein Verlag

Fünf Tage vorher hatte sie zum letzten Mal ins Tagebuch geschrieben: "Höre Gott Israels, rette uns, hilf uns." Dann folgen noch einige wenige Eintragungen Zygmunts. Am 31. Juli schreibt er: "Drei Schüsse! Drei verlorene Leben! Es passierte gestern Nacht um 22:30 Uhr." Zygmunt überlebte und konnte das Tagebuch retten.

In den 1950er-Jahren machte er Renias Mutter und Schwester in den USA ausfindig – das Tagebuch blieb ungeöffnet, später landete es für 40 Jahre in einem Banksafe, erst Renias Nichte ging mit den 700 Seiten starken Aufzeichnungen an die Öffentlichkeit, 2016 erschienen sie erstmals auf Polnisch.

Quälende Bilder

Spät wurde auch die Überlebensgeschichte von Maria König aufgezeichnet. Erst zwei Jahre nach ihrem Tod kann man nun unter Marischa – mehr als ein Wunder das Leben einer Frau nachlesen, die einst aus einem behüteten Milieu in Łódź herausgerissen wurde, Ghetto, Auschwitz und Zwangsarbeit überlebte und später als "überzeugte Sozialistin" in die DDR ging.

Erst an ihrem Lebensende, im Seniorenheim, wurde sie mitteilsam und sprach der Verlagslektorin Antje Leetz ihr Leben auf Band. Weil sie im Alter, heißt es, "keine seelische Kraft" mehr hatte, die quälenden Bilder zu verdrängen … (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 23.1.2022)