Wer einmal das Vergnügen hatte, im Lesesaal der British Library in London zu arbeiten, weiß, welch wissensdistinguierte Atmosphäre dort herrscht und welch diskrete, dabei entschiedene Professionalität, wenn es um das Hantieren mit Archivalien geht.

Dort stieß im Jahr 2007 die aus Kanada gebürtige Wissenschafts- und promovierte Kunsthistorikerin Judy Batalion im Zuge einer Suche nach Historien jüdischer Frauen im 20. Jahrhundert zufällig auf eine Publikation, einen in verschlissenes blaues Gewebe gebundenen Band, dessen mäßiges Büttenpapier vergilbt war.

Frauen und der Untergang der Alten Welt: Judy Batalion.
Foto: Beowulf Sheehan

185 Seiten zählte er, gefüllt in einer sehr kleinen Schreibschrift. Geschrieben in Jiddisch. Batalion musste ältere Kenntnisse aktivieren, um zu entziffern und zu verstehen. Der Titel: Freuen in di Ghetto. Gedruckt: 1946. In New York. In der Neuen Welt. Dabei handelte es von ganz anderem – vom Untergang einer alten Welt.

Wahre Heldinnen

Sieben Jahre später, August 2014, Haifa, Israel. Renia Kukielka, die mit 89 Jahren starb, wird beigesetzt. Ihr Enkel hält eine kurze Rede und sagt: "Du hast immer gekämpft wie eine wahre Heldin." Das war seine Großmutter tatsächlich. Und zugleich eine der Hauptfiguren in Freuen in di Ghetto, dem Erinnerungsmemorial-Band. Und jetzt in Judy Batalions Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns.

Denn in ihrem aufwühlenden Buch erzählt Batalion von Renia Kukielka wie von neunzehn weiteren jungen polnischen Jüdinnen, die im Angesicht der von den Nationalsozialisten industriell betriebenen Auslöschung und Vernichtung ihres Volkes Widerstand leisteten.

Die Waffen in Broten versteckten. Wachleute bezirzten oder bestachen. Pistolen in Ghettos schmuggelten. Gefälschte Papiere entwarfen. Bahngleise in die Luft jagten. Unterirdische Bunker bauten. Sie kämpften. Sie wollten Widerstand entgegensetzen. Sie wollten aufrecht in den Tod gehen.

Bildung gab Halt

Dass sie überleben würden, davon waren weder Renia Kukielka, Chajka Klinger, Chaika Grossman, Faye Schulman, Chasia Bielicka oder Frumka Plotnicka, die andere so sehr mitreißen konnte und im August 1943 auf grauenhafte Weise starb, nicht überzeugt. Eher vom Gegenteil angesichts der entgrenzten Brutalität der Deutschen.

Sie entstammten ganz unterschiedlichen Milieus, bürgerlichen Familien oder bitterarmen, sie waren Sozialistinnen oder Zionistinnen. Eines verband sie alle – Bildung. Bildung war für alle jüdische Widerstandsgruppen von elementarer Bedeutung. Es wurden eigene Bücherstellen aufgebaut, es wurden Untergrundzeitungen in geringer Stückzahl gedruckt und verteilt. Bildung gab Halt, war Kontrolle inmitten unvorstellbar höllischer Vorgänge.

Tatsächlich überlebte nicht nur Renia, die nach Israel emigrierte. Auch Chasia Bielicka, die nach Kriegsende in Łódź ein Waisenhaus für elternlose jüdische Kinder gründete und 1947 nach Palästina floh. 2003 erst veröffentlichte sie ihre Memoiren und gestand, seit dem Krieg keine Nacht mehr durchgeschlafen zu haben.

Sträflich vernachlässigt

Judy Batalion, "Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen". Übersetzt von Maria Zettner. 25,70 Euro / 624 Seiten. Mit 32 S/W-Abb. und einer Karte. Piper-Verlag, München 2021
Cover: Piper

Chaika Grossman wurde 1969 gar ins israelische Parlament, in die Knesset, gewählt. Faye Schulman, die von den Nazis gezwungen worden war, die Exekution des Ghettos von Lehnin, bei der fast ihre gesamte Familie ermordet wurde, fotografisch zu dokumentieren, und damals um ein Haar Selbstmord begangen hätte und die später, 1948, nach Kanada zog, gestand Jahrzehnte später, nie so einsam gewesen zu sein wie am 8. Mai 1945. Denn von den Menschen, die sie liebte, war niemand mehr am Leben.

Das Buch ist auch deshalb so eindringlich, peinigend und lebendig geraten, weil Batalion es in der "Fly on the wall"-Manier verfasst hat. Man ist ständig als Quasifliege an der Wand bei allem unmittelbar dabei. Zugleich ist dies methodisch nicht unproblematisch. Erzählende Historiografie hat sich öfters Freiheiten genommen. Wie scharf wurde Golo Mann dafür gescholten, dass er in seiner Wallenstein-Biografie einen fiktiven Traum einflocht!

Das "Fly on the wall"-Prinzip treibt das noch weiter. Und ist ausnehmend beliebt bei amerikanischen Journalisten, die Skandale nachzeichnen wie einst Kurt Eichenwald etwa die Großpleite des texanischen US-Energieriesen Enron.

Beim "Mäuschen spielen" werden zahllose Gespräche und Emotionen so rekonstruiert, als säße man mit am Tisch, wäre bei Gesprächen oder Diskussionen anwesend, direkt im Kopf. Jemand, der das suggestiv handzuhaben versteht, ist der Washington Post-Journalist Bob Woodward in seinen Büchern über US-Präsidenten. Das fesselt, ist aber fast romanhaft, eine gelungene, sehr lebendige und rasante, aber immer noch eine Erzählung ohne wirklich nachprüfbare Basis.

Was nur wenig daran ändert, dass Batalion einen Aspekt der Geschichte des Zweiten Weltkriegs schildert, der seltsam und sträflich vernachlässigt worden ist. (Alexander Kluy, ALBUM, 22.1.2022)