Armin Mueller-Stahl mit dem Österreicher Bruno Kreisky: "Der Zustand unserer Welt hat mich dazu gebracht, mich mit jüdischen Porträts zu befassen."

Foto: Walter Grünzweig

Zu unserem Treffen in Lübeck ist Armin Mueller-Stahl von seinem Domizil an der Ostsee angereist. Die Hansestadt ist ein symbolischer Ort für ihn. Hier wurde Thomas Mann geboren, den Mueller-Stahl im gefeierten TV-Dreiteiler Die Manns – Ein Jahrhundertroman von Heinrich Breloer gespielt hat. Seine Interpretation des großen Buddenbrooks-Autors wird im 21. Jahrhundert Gültigkeit behalten. Lübeck lag bis zum Mauerfall aber auch unmittelbar an der Trennlinie zwischen Ost und West – die Stadtgrenze war gleichzeitig die zwischen Bundesrepublik und DDR, zwischen Nato und Warschauer Pakt.

Mueller-Stahl, geboren 1930 in Tilsit in Ostpreußen (heute Sowetsk in der russischen Exklave Kaliningrad), legte die erste Etappe seiner weltumspannenden Karriere in der DDR zurück. Seine Bedeutung für den Film Ostdeutschlands, aber auch als Identifikationsfigur für dessen Bürger und Bürgerinnen kann kaum überschätzt werden.

Das hat vor allem mit der Unabhängigkeit und Integrität seiner schauspielerischen Darstellung zu tun, die dem Publikum eine eigene Wahrnehmung und Interpretation des Gezeigten ermöglichte. Neben Filmen zum Leben in der DDR und historischen Themen stehen auch Mueller-Stahls bedeutende Verfilmungen von Holocaust-Literatur wie Nackt unter den Wölfen (Bruno Apitz) oder Jakob der Lügner (Jurek Becker; zum DEFA-Film des Jahres 1974 kam 1999 noch eine US-Verfilmung mit Mueller-Stahl und Robin Williams).

Beschäftigungsverbot

Seine Unterschrift gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Jahr 1976 führte de facto zu einem Beschäftigungsverbot. In dieser Zeit schrieb er einen autobiografisch geprägten Roman, Verordneter Sonntag, der nahezu gleichzeitig mit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1980 erschien. Hier fand er in Filmen wie Rainer Werner Fassbinders Lola seinen dauernden Platz auch in der westdeutschen Filmgeschichte.

Das Angebot, es sich dort bequem einzurichten, etwa in der Rolle des Chefarztes der Schwarzwaldklinik, schlug er jedoch aus. In den späten 1980er-Jahren zog es ihn nach Hollywood, wo er in Werken wie Constantin Costa-Gavras’ Music Box, einem Film über den Holocaust auf ungarischem Boden, Barry Levinsons Migrantenstory Avalon, vor allem aber in Jim Jarmuschs Night on Earth mit seiner unvergesslichen Darstellung eines ostdeutschen Taxifahrers große Erfolge erzielte.

Ein hellwacher 90-Jähriger

Zum Gespräch in Lübeck kommt Armin Mueller-Stahl mit seiner Frau Gabriele Scholz, einer Dermatologin, die zu seiner internationalen Karriere viel beigetragen hat. Sie unterstützt den hellwachen 90-Jährigen, dessen Physiognomie und Erscheinung man bei der persönlichen Begegnung sofort mit vielen Filmen in Bezug setzt, durch ihre Perspektive einer teilnehmenden Beobachterin.

DDR, BRD, USA – spielt auch Österreich in seinem Leben eine Rolle? Seine Antwort kommt schnell und leidenschaftlich: "Ich wurde schauspielerisch von Österreichern geprägt. Von Fritz Wisten, der in Berlin im Nationalsozialismus lange Zeit Mitarbeiter und auch Leiter des Theaters des Jüdischen Kulturbunds war und nach dem Zweiten Weltkrieg das Theater am Schiffbauerdamm und die Volksbühne Berlin leitete, habe ich alles gelernt, was Schauspielerei angeht. Otto Tausig war kurze Zeit mein Lehrer. Aber auch Schauspielerkollegen wie Wolfgang Heinz, der dann auch mein Intendant war, und Karl Paryla waren bedeutend für meine künstlerische Entwicklung."

Mueller-Stahl verweist hier auf ein nur wenig bekanntes Phänomen der Nachkriegsgeschichte, nämlich dass Dutzende von Österreichern und Österreicherinnen sich entschlossen, nach dem Zweiten Weltkrieg aus ideologischen, politischen, aber auch ökonomischen Gründen in dasjenige deutschsprachige Land umzusiedeln, das, so hoffte man damals, das menschlichere System, den Sozialismus, gewählt hatte.

Darunter waren die Großbritannien-Exilantin Eva Schmidt-Kolmer, die Mutter der DDR-Kinderkrippen, der US-Exilant, Arzt und Biochemiker Samuel Mitja Rapoport, der das moderne Blutspendewesen möglich gemacht hatte, Otto Prokop, Gerichtsmediziner, in der TV-Serie Charité sehr überzeugend von Philipp Hochmair dargestellt, oder der Holocaust-Schriftsteller Fred Wander und seine Frau, die Schriftstellerin und Fotografin Maxie Wander.

Gegenseitige Befruchtung

Die von Mueller-Stahl genannten Theatermenschen waren in Wien in der Mehrzahl Mitglieder des Neuen Theaters in der Scala in der Favoritenstraße. Die Scala Wien, mit ihrer Nähe zur KPÖ und zur sowjetischen Besatzungsmacht, musste 1956 schließen. Ein Teil des Ensembles fand in Ostberlin eine neue künstlerische Heimat.

Laut Mueller-Stahl entstand hier deutsch-österreichische Schauspielkunst: "Das war wirklich eine gegenseitige Befruchtung, fast wie eine Ehe." Die Österreicher "haben dieses bewegte Theater zu uns gebracht, alles doppelt gesprochen, verstottert und verspielt, das hat mich immer sehr gereizt. Die Österreicher haben in ihrer Bewegung immer die Musik an den Text gebracht, auch in ihrer Spielweise, den Couplets, die sie gesungen haben."

Dass er nie in Österreich gearbeitet hat, bedauert Armin Mueller-Stahl. "Ich hatte mal das Angebot des Burgtheaters, den Mackie Messer zu spielen, leider war ich damals in Amerika mit einem Film beschäftigt."

Trotzdem hat er sich auch in die österreichische Filmgeschichte eingespielt. In István Szabós Oberst Redl, mit Klaus Maria Brandauer in der Rolle des Titelhelden, war er 1985 der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand. "Da wollte ich sprachlich aber nicht den Österreicher geben, sondern habe mich nur ausgeliehen. Man sollte nicht mal versuchen, einen anderen Dialekt schlecht zu sprechen. Auch bei Thomas Mann, als ich mir die Bänder mit seiner Stimme anhörte, sagte ich mir: So werde ich nicht spielen."

Armin Mueller-Stahl ist ein Vielfachtalent. Er begann mit der Musik (Studium der Violine am Stern’schen Konservatorium in Berlin) und wechselte dann zu Theater und Film. Seine internationale Karriere machte er als Schauspieler, aber er sieht darin nicht automatisch den Schwerpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit.

Trotz vieler interessanter Angebote, etwa der Rolle des Sigmund Freud in der Verfilmung von Robert Seethalers Der Trafikant, hat er sich seit 2015 ganz auf die Malerei konzentriert. "Ich habe das immer gewollt – am Schluss meines Lebens sollte die Malerei stehen. Am Beginn war es die Musik. Ich war mir nicht sicher, ob die Schauspielerei die richtige Wahl war, denn ich wollte – ehrlich gestanden – Komponist und Dirigent werden. Jetzt bin ich ein Mann der Malerei."

Zentraler Teil "unserer" Tradition

Der Maler Mueller-Stahl ist ungeheuer produktiv. Er verbringt fast jeden Vormittag in seinem Atelier; an die 4000 Werke sind bereits entstanden. Im Vordergrund stehen dabei Porträts von kreativen Menschen vieler Länder und Perioden.

Dabei geht es ihm um die Darstellung der schöpferischen Persönlichkeit mit den Mitteln der Kunst: "Ich möchte die Menschen so darstellen, wie ich sie verstehe, und zwar durch unterschiedliche Farben und Hintergründe. Und dabei mische ich die Farben, das ist ein Spiel mit Farben und der Figur. Und manche Figuren haben mehr Farbe als andere – besonders Figuren, die ich nicht so gut kenne. Dann kann die Farbe für sich selbst sprechen. Und sie soll ein Urteil fällen."

Kritiker sehen seine Porträts in der expressionistischen Tradition. "Man muss heute anders malen als die alten Meister", sagt er. Der Größte ist für ihn Rembrandt: "Seine Selbstporträts sind meisterhaft mit Licht ausgestattet. Aber der heutigen Malerei entspricht mehr eine Art Zufälligkeit. Da geschieht etwas noch während der Produktion. Dass plötzlich Farbe runterläuft." Dazu gehört auch die Synästhesie, etwa im Bereich Musik oder Literatur. "Für mich sind Tonarten zum Beispiel farbig. Ich höre eine Symphonie und habe dabei Farben im Kopf. Auch Vokale. Das I ist für mich weiß, das A gelb, das Ü grün."

Herzensangelegenheit

Im vergangenen Jahr fand in Lübeck anlässlich des 90. Geburtstags eine Ausstellung mit Werken Mueller-Stahls statt, die auch Teile seines wahrscheinlich bedeutendsten malerischen Projekts präsentierte, Jüdische Freunde und Weggefährten. "Der Zustand unserer Welt hat mich dazu gebracht, mich mit jüdischen Porträts zu beschäftigen. Sie waren eine Herzensangelegenheit, auch weil ich in Amerika etliche Juden gespielt habe. Und als ich mal bei einer Pressekonferenz deutlich sagte: ‚But I’m not a Jew‘, stand einer der jüdischen Journalisten auf und sagte: ‚You are a Jew. I give you my word.‘"

In Buchform erscheint Jüdische Porträts. Schicksale, Weggefährten, Freunde Anfang März 2022 im Berliner Kunstverlag Hatje Cantz in einer in Druck und Gestaltung hervorragend ausgestatteten Ausgabe. In einer Situation, in der in vielen Teilen Europas der Antisemitismus im Zunehmen begriffen ist, ist diese Sammlung von 97 Porträts eine sehr zeitgemäße Erinnerung daran, dass jüdische Menschen zentraler Teil "unserer" Tradition sind.

"Zum Antisemitismus gehören ja auch die Holocaust- und Klimaleugner, die unser Leben so schwer machen, besonders jemandem wie mir, der den Zweiten Weltkrieg von A bis Z überleben musste und durfte." Armin Mueller-Stahl, der seine jüdischen Personen auf der Bühne und im Film nicht nur gespielt, sondern repräsentiert hat, ist mit diesem Projekt zu einem Mittler von Juden und Nichtjuden der besonderen Art geworden.

Schönberg, Mahler, Kafka und Co

Armin Mueller-Stahl, "Jüdische Porträts. Schicksale, Weggefährten, Freunde". 38,– Euro / 160 Seiten. 97 Abbildungen. Hatje-Cantz-Verlag, 2022
Cover: Hatje Cantz

Etwa ein Viertel der Porträtierten in diesem Band stammt aus Österreich bzw. dem habsburgisch-mitteleuropäischen Kulturbereich. Der Band, eingeteilt nach Arbeitsbereichen, enthält neben Freunden und Zeitgenossen auch eine Reihe von Porträts von jüdischen Persönlichkeiten, die seiner Lebens- und Schaffenszeit vorangingen.

Und doch sind alle seine Weggefährten. Das beginnt bei Schönberg, Mahler, Kafka, Werfel und Celan, führt dann über Billy Wilder, Helene Weigel hin zu Hilde Spiel, umfasst jedoch auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Politiker wie Arthur George Weidenfeld, Simon Wiesenthal und dessen erbitterten Widersacher Bruno Kreisky.

An Letzteren hat Armin Mueller-Stahl eine besonders positive Erinnerung: "Als Kanzler Kreisky die DDR besuchte, sprach er mit dem Politbüro. Es ist für mich unvergessen, wie er locker vom Hocker links und rechts Interviews gab, ganz wie ein Schauspieler, und das Politbüro stand um ihn herum, steif, wie in Erz gegossen. Das war so wohltuend zu erleben und hat uns damals den Blick nach Österreich ungeheuer sympathisch gemacht. Der sympathische Kreisky, der bei uns auftrat und dabei das Politbüro aufmischte."

Aus einer Perspektive der Distanz gibt Armin Mueller-Stahl hier eine positive Einschätzung des österreichischen politischen Theaters. Auch sie beweist seine Affinität zu diesem Land.(Walter Grünzweig, ALBUM, 23.1.2022)