Die beeindruckende Sowjetmacht: Atomraketen 1963 auf dem Roten Platz bei der großen Militärparade zum Sieg über Hitler-Deutschland.

Foto: Imago

Vor ziemlich genau 30 Jahren ist die Sowjetunion zerfallen. Der genaue Jahrestag (26. Dezember 1991) wurde nicht besonders begangen, obwohl die Welt gerade mit dem riskanten Versuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin befasst ist, das sowjetische Imperium in modifizierter Form wiederzuerrichten.

Wer das vergangene Jahrzehnt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) einigermaßen miterlebt hat und diese mit dem heutigen Putin-Russland vergleicht, dem fallen die vielen Kontinuitäten auf.

Die alte Sowjetunion war eine eiserne Diktatur, in der außer dem gewaltigen Militär und dem allgegenwärtigen KGB nichts funktionierte. Sie lebte praktisch von Rohstoffen und Schwerindustrie für den Eigenbedarf. Technologie, aber auch einfachste Konsumgüter wie Schuhe mussten importiert werden.

Die Bevölkerung war sozial abgesichert auf äußerst niedrigem Niveau. Die Einkommen waren gleich verteilt, die Funktionärsklasse war privilegiert, lebte aber etwa so wie westeuropäische Facharbeiter. Ihre wirtschaftliche Schwäche kompensierte die UdSSR mit der Aufrechterhaltung eines Imperiums in Osteuropa und mit interventionistischen Abenteuern in der Dritten Welt.

Die alte Sowjetunion war, wie es der deutsche Kanzler Helmut Schmidt einmal sagte, "Obervolta mit Atomraketen" (das heutige Burkina Faso, ein bitterarmer westafrikanischer Staat). Aber die Sowjetunion war gefürchtet.

Auf dem Weg zurück

Das heutige Russland des Wladimir Putin ist ein autoritäres Regime auf dem Weg zurück. Es wandern nicht mehr Millionen Menschen in sibirische Lager, sondern "nur" die Gegner der Autokratie (wenn sie ihre Vergiftung überleben). Das Reich ist nun viel kleiner (Ukraine, Belarus, die Baltenstaaten, die zentralasiatischen und die Staaten des Kaukasus sind unabhängig), es lebt nach wie vor von Rohstoffen.

Die Lage der breiten Bevölkerung hat sich etwas gebessert, es ist sogar so etwas wie eine Mittelschicht entstanden. Dafür haben sich ein paar aberwitzig reiche "Oligarchen" das "volkseigene Vermögen" unter den Nagel gerissen.

Geheimdienst und Militär funktionieren nach wie vor – und die alte imperialistische Politik lebt wieder auf. Putin interveniert in Syrien oder Libyen, und er versucht, frühere Teilstaaten der UdSSR – Ukraine, Kasachstan – wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Und die Nato aus Osteuropa zu vertreiben. Deswegen ist Putins Russland ebenfalls gefürchtet.

Doch wo ist, 30 Jahre später, ein echter Fortschritt ?

Die "Sowjetmacht" war ein überwältigender militärischer und bürokratischer Apparat. Doch das relativierte sich stark in dem Moment, in dem man die sowjetische Alltagsrealität kennenlernte.

Zustand eines Regimes

Der Zustand der Sowjetunion in ihrer Spätphase war bei einem Staatsbesuch des damaligen österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger im Mai 1982 buchstäblich von Minute eins an zu beobachten. Auf dem Prominentenflughafen Wnukowo marschierte zunächst eine Gardeabteilung von unfassbarer Zackigkeit auf.

Eine riesige offizielle ZIL-Limousine rollte heran. Heraus sprangen vier Leibwächter, die den damaligen Generalsekretär der KPdSU und Präsidenten der UdSSR, Leonid Breschnew, buchstäblich herausheben mussten. Sie legten ihm Mantel und Schal um, setzten ihm von hinten den Hut leicht schief auf den Kopf und halfen ihm bei den nächsten paar zappelnden Schritten.

Breschnew war damals 76 Jahre alt, seit 1964 Generalsekretär und offenkundig schwer beeinträchtigt. Nach der Begrüßung raste der Konvoi auf dem "Bonzenstreifen" in der Mitte der Landstraße Richtung Moskau, die jeweils in einem Kilometer Abstand aufgestellten Milizionäre (Polizisten) knapp verfehlend. Nachher fragten wir Journalisten Kirchschläger, worüber er auf der gut halbstündigen Fahrt mit Breschnew gesprochen habe. "Er war sehr müde", sagte Kirchschläger diplomatisch.

Leere Regale, bis auf Wodka

Der Staatsbesuch war trotzdem ein Erfolg, es ging um die Bekräftigung des guten Verhältnisses zwischen der großen Sowjetunion und dem kleinen, neutralen Österreich. Besucht wurde auch das sogenannte Sternenstädtchen, wo außerhalb von Moskau die Errungenschaften der sowjetischen Raumfahrt ausgestellt wurden.

Ein unternehmungslustiger Jungdiplomat der österreichischen Botschaft sagte allerdings zu ein paar von uns Journalisten, wir könnten uns das sparen, er werde uns den sowjetischen Alltag zeigen. Zuerst hielten wir an einem der wenigen Lebensmittelgeschäfte im Zentrum von Moskau.

Die Lebensmittel waren allerdings hauptsächlich flüssiger Natur: Wodka, georgischer Kognak, Krimsekt in rauen Mengen. Zu essen gab es grünliche Wurst, sonst nichts. In kurzen Abständen betraten Sowjetbürger den Laden, völlig Fremde, legten zusammen, um eine Flasche Wodka zu kaufen, setzten sich vor dem Geschäft auf den Randstein und tranken die Flasche zusammen aus.

Putin bei der großen Militärparade auf dem Roten Platz vor einigen Jahren.
Foto: Imago / ITAR-TASS / Alexei Nikolsky

So tun als ob

In einem Park fiel uns ein Areal auf, das von einem kreisförmigen Bretterzaun abgeriegelt war. Im Inneren waren hunderte jüngere russische Männer, die sich am helllichten Tag betranken. Den Zaun hatte die Stadtverwaltung errichtet, um den Anblick zu verdecken. Als wir fotografieren wollten, sagte einer der Männer: Bitte nicht, er sollte eigentlich in der Fabrik sein.

Damals kursierte der Spruch: "Sie tun so, als ob sie uns bezahlen, wir tun so, als ob wir arbeiten." Auffällig war, dass in den Straßen fast jeder ein Einkaufsnetz mithatte. Erklärung: sofort zuschlagen, wenn es in den leeren Geschäften doch plötzlich irgendetwas zu kaufen gab – kubanische Bananen, ungarische Zigaretten, österreichische Schuhe. Weiterverkaufen oder tauschen kann man immer.

Das sowjetische System war rückständig. Im Grunde eine Kriegswirtschaft, ungeeignet sowohl zur Versorgung der eigenen Bevölkerung als auch zur Entwicklung einer breiten Technologiebasis. Gleichzeitig beging man den Fehler imperialer Überdehnung. Breschnew war 1979 in Afghanistan einmarschiert, der ungewinnbare Krieg trug zum Untergang der Sowjetunion bei.

Im Herbst 1982 starb Breschnew, es folgten weitere zwei Apparatschiks, bis die Hoffnungsfigur Michail Gorbatschow auftauchte. Der war im Stil ganz anders als die Sowjetmumien. Bei einem Besuch von Kanzler Franz Vranitzky im Kreml ging Gorbatschow auf uns wartende Journalisten zu und begann ein angeregtes Gespräch. Aber seine Schlagworte "Perestroika" (Umbau) und "Glasnost" (Offenheit) waren leere Hülsen, sein vager "Reformkommunismus" verfing nicht.

Die Tragik von Gorbatschow: Er wollte durch eine Entspannungspolitik gegenüber den USA und durch die Freigabe von Osteuropa bzw. das Zulassen der deutschen Einheit sein Land von den erdrückenden Militärausgaben befreien. Aber dazu hatte er weder ein richtiges Konzept noch die Zeit. Boris Jelzin servierte ihn ab und gab gleichzeitig die wegstrebenden früheren Teilrepubliken frei. Er wollte sich auf Russland konzentrieren.

Kapitalistischer Schock

In jenen Jahren veränderte sich das Bild von Moskau drastisch. In den früheren stalinistischen Funktionärshotels entstanden plötzlich Go-Go-Bars und Discos, in die bullige Männer mit Rolexuhren ihre blonden Modelfreundinnen ausführten. Es gab Luxusgüter und die Werbung dafür zu sehen, allerdings nicht für Normalbürger.

Eine Art Sozialpartnerschaft nach österreichischem Muster (sogar einmal bei einer Tagung in Moskau präsentiert) wäre eine Möglichkeit gewesen. Aber keine Chance: Die von amerikanischen Beratern eingeführte kapitalistische "Schocktherapie" setzte sich durch und führte zu Verarmung. Daraufhin wurde ein "starker Mann" gebraucht. Es nahte die Stunde von Wladimir Putin.

Was will Putin?

Der herrscht nun seit 22 Jahren, länger als jeder andere Mann im Kreml mit Ausnahme von Stalin. Derzeit fragt man sich, was er will. Eine Art Wiedererrichtung der Sowjetunion, kein Zweifel. Ein Russland, von nach seinem Modell autoritär regierten Staaten umgeben. Und Nato und EU impotent machen.

DER STANDARD

Ob er in die Ukraine einmarschieren wird, um sie vom endgültigen Westkurs abzuhalten, weiß er wohl selbst nicht. Aber: Kann diese Aggression nach außen damit zu tun haben, dass der 69-Jährige nicht recht weiß, was er nach innen machen soll? Weil sein Regime stagniert? So wie die Sowjetunion am Ende?

Erstes Ergebnis von Putins ausgreifender Drohpolitik: Schweden und Finnland erwägen ernsthaft den Nato-Beitritt. Aber die Basis für Imperialismus ist immer noch schmal. Das Bruttoinlandsprodukt des Riesenlandes betrug 2020 1,483 Billionen Dollar. Das ist etwas weniger als das Italiens (1,651 Billionen) und nur dreimal so viel wie das des viel kleineren Österreich. Echte Sanktionen (Abschneiden vom internationalen Zahlungsverkehr SWIFT) würden es wirklich treffen. Was ist, wenn Putin die Gaslieferungen abdreht? Sehr ungemütlich für Europa, aber Russland verliert schlagartig existenzielle Einkünfte.

Putins Russland hat wahrscheinlich nicht den Grad der Stagnation erreicht, wie die Sowjetunion in ihrer Endphase. Aber Dynamik ist keine mehr da. Aus seiner Sicht ist es logisch, davon durch Expansion nach außen abzulenken und bei der alten UdSSR wiederanzuknüpfen. Wenn man ihn lässt. (Hans Rauscher, 23.1.2022)