"Der STANDARD feiert seine zehntausendste Ausgabe. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit der Zahl Zehntausend."

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Es gibt Statistiken, die durch die Medien geistern, ohne dass man groß über sie nachdenkt. Zum Beispiel die über die Besitztümer eines Durchschnittsbürgers. Das Internet ist voll mit einer Zahl: "10.000 Dinge, sagt die Statistik, habe der Durchschnittseuropäer in seinem Besitz" (Spiegel), "Kein Mensch muss 10.000 Dinge besitzen. Aber im Schnitt hat jeder von uns genau so viel angesammelt" (Zeit), "Als Durchschnittsdeutscher besitzt du laut Statistischem Bundesamt rund 10.000 Dinge" (Galileo).

Die Meldung variiert: Mal ist es der durchschnittliche Deutsche, mal der durchschnittliche Europäer. Mal stammt die Statistik aus dem Jahr 2014, mal steht eine Vergleichszahl von "vor 100 Jahren" dabei. Was die Meldungen zusammenhält, ist die Zahl 10.000. Und dass – falls überhaupt eine Quelle angegeben wird – sie angeblich vom Statistischen Bundesamt kommt, der deutschen Statistikbehörde mit Sitz in Wiesbaden.

10.000 sollen wir angeblich besitzen – doch wie zählt man die Besitztümer?
Foto: Frank Robert

Bleibt man beim Medienkonsum bei einer Zahl hängen, ist der erste Schritt immer, sie einer groben Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Kann das sein? Eine halbe Stunde in der eigenen Wohnung macht einen nicht schlauer. 142 Bücher stehen im Regal, irgendwo im Kellerabteil in einer Kiste sind es noch mehr.

Die Hausbar umfasst 18 Flaschen Spirituosen, elf Topfpflanzen stehen herum, ebenso wie eine Spielkonsole und 17 Möbelstücke. Schnell zeigt sich: Eine solche Zählung dauert nicht nur ewig, sondern es tauchen auch ständig Definitionsfragen auf. Sind ein Paar Sneaker jetzt ein oder zwei Gegenstände? Zählt bei der Hausapotheke jede Tablette oder jeder Blister? Eine realistische Hochschätzung ist aus solchen Stichproben nicht möglich.

... oder sind es doch nur 2.000?

Judith Gebbe, eine BWL-Studentin aus Iserlohn, hat das Experiment vor ein paar Jahren mit ihren eigenen Besitztümern wiederholt. Sie kam auf 2.198. Darunter 100 Bücher, 251 Kleidungsstücke, 17 Paar Schuhe, 237 Dekogegenstände, 122 Nägel und Schrauben, zwei Stofftiere, sechs Scheren, 100 alte Bravo, 21 Kugelschreiber, acht USB-Sticks, drei Trinkflaschen. Eigentlich besitzt Grebe mehr als 2.198 Dinge, das war einfach nur die Zahl, bei der sie die Zählung abbrach.

Gehen wir davon aus, dass die Sache mit den 10.000 Gegenständen stimmt, dann klingt das intuitiv viel. Vielleicht zu viel. Ein minimalistischer Lebensstil wie in einem Designmagazin geht sich damit nicht aus. Was zu der Frage führt, wie viel ein Minimalist besitzen sollte. Marie Kondo, die es vor ein paar Jahren mit ihrer radikalen Aussortiermethode dank Netflix zu einiger Berühmtheit gebracht hat, hilft da nicht weiter. Man solle sich bei jedem Teil fragen, ob es Freude auslöst ("Does it spark joy?"), und es entsorgen, wenn die Antwort Nein ist. Eine Anleitung, wie viele Freude auslösende Pullover man am Ende in seinem Kasten haben sollte, gibt auch sie nicht.

Wer lieber ohne Marie Kondo aussortieren will, für den hält das Internet eine Reihe von "Checklisten" zum Download bereit. Jetzt weiß man wohl auch ohne Checkliste, dass man in seine alten Schulbücher nie wieder hineinschauen wird. Aber die einzelnen Punkte sind trotzdem interessant. "Alte Batterien" und "Kabel" ergeben Sinn: Wer hat keine Lade voll alter Kabel und Ladegeräte von längst vergessenen Elektrogeräten, die man "eventuell noch mal brauchen könnte"? Bei Punkten wie "alte Kommoden" wird es dann sehr spezifisch, so viele von denen hat der Durchschnittsbürger vermutlich nicht.

Alles eine Frage der Definition

Der US-Blogger Dave Bruno tingelt seit Jahren mit der These über die Bühnen, dass man eigentlich nur 100 persönliche Dinge zum Leben bräuchte. Das ist insofern ein bisschen irreführend, als er die Gegenstände, die er sich mit seiner Familie teilt – also von Möbelstücken bis zu Besteck –, nicht mitzählt. Da sind wir wieder bei der Definitionsfrage. Und 100 persönliche Nicht-Alltagsgegenstände klingt dann schon wieder machbarer. Ein deutscher Minimalist gab vor ein paar Jahren den Ratschlag, dass man sich überlegen solle, was man bei einem Feuer aus seinem Haus mitnehmen würde. Das ist vermutlich ein guter Ratschlag. Allerdings muss man die 142 Bücher in seinem Regal vielleicht nicht präventiv wegschmeißen, nur weil man sein Leben nicht für sie riskieren würde.

Nach zwei Tagen Nachdenken erreicht einen dann eine freundliche Mail von einer Sprecherin des Statischen Bundesamts. Die 10.000 Dinge seien eine "Falschmeldung", die sich hartnäckig halte. "Wir haben dazu keine Daten vorliegen und hatten es auch nie." So eine Statistik sei auch generell kritisch zu sehen: Die Anzahl der Gegenstände in einem Haushalt verändere sich durch Einkäufe oder Entsorgung täglich, eine valide Erhebung dazu sei unmöglich. Woher die Information mit den 10.000 Dingen kommt, weiß beim Statistischen Bundesamt niemand. Man kenne auch sonst keine Stelle, die über solch eine Statistik verfüge. Ihr Ursprung bleibt auch nach längerer Suche im Dunkeln. Wie so viele Zahlen, die sich im Internet herumtreiben.

Trotz aller Trends zum Minimalismus bleibt das Leben also unüberschaubar und schwer zu quantifizieren. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es nicht nur keine durchschnittliche Anzahl an Besitztümern gibt – sondern, weil es von so vielen Vornahmen und Faktoren abhängt, wahrscheinlich auch keine empfehlenswerte.

Außer für die Spirituosen in der Hausbar: Da sind 18 genau richtig. (Jonas Vogt, 23.1.2022)