Othmar Karas nimmt dieser Tage sehr viele Gratulationen entgegen. Der 64-Jährige Abgeordnete der ÖVP erhielt bei den Wahlen zur Vizepräsidentschaft des Europäischen Parlaments am Dienstag mit 536 Stimmen das überzeugendste Mandat aller Kandidatinnen und Kandidaten. Er ist damit der erste von 14 Stellvertretern der maltesischen Präsidentin. Das bedeutet für Karas, der schon zweimal einer der Vizepräsidenten war, in erster Linie sehr viel mehr Arbeit. Auch deshalb verspätet er sich zunächst kurz, auch deshalb wirkt er zunächst etwas müde. Das ändert sich schnell, sobald er über sein Lieblingsthema reden darf: die Erneuerung der EU, die Zukunft der EU, die Verbesserung der EU.

STANDARD: Sie haben kürzlich in einem Interview zur Konferenz zur Zukunft Europas gesagt: "Wir müssen aus dieser Bubble der immer gleichen Gespräche heraus". Was sind die Ideen, die noch keiner hatte?

Karas: Die Konferenz gibt es ja genau deshalb, weil wir das europäische Projekt erlebbarer machen müssen. Bürgerinnen und Bürger müssen verstärkt zu Beteiligten der Zukunftsdebatte gemacht werden. Die Politik neigt – leider – dazu, immer stärker in Überschriften zu agieren, tagespolitisch zu denken, konfliktorientiert zu sein mit vielen Schuldzuweisungen, parteipolitisch und national zu sein. Gleichzeitig stehen wir vor großen Umbrüchen aus gesellschaftlicher, sozialer, politischer und ökologischer Sicht, die keine nationalen und kontinentalen Grenzen kennen und uns alle betreffen. Deshalb muss man die Zukunft zum Thema machen. Statt Angst vor der Zukunft zu machen, muss man die Zukunft gestalten.

Es gibt wohl wenige überzeugtere Europäer als Othmar Karas, dennoch will er sehr viel ändern in der Institution, der er schon mehr als zwei Jahrzehnte dient.
Foto: EPA/OLIVIER HOSLET

STANDARD: Wie soll das konkret geschehen?

Karas: Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas durch die digitalen Plattformen, durch Bürgerforen und eben die Konferenz, deren Name mir persönlich nicht gefällt. Ich hätte es gerne "Dialog über die Zukunft Europas" genannt. Konferenz klingt ja schon wieder, als würden sich ein paar Leute hinter verschlossenen Türen treffen. Die Transparenz, die Offenheit, die Unvoreingenommenheit und die Bereitschaft, zuzuhören und sich zu beteiligen, ist deshalb umso wichtiger. In der Demokratie sind immer die am stärksten, die sich beteiligen und die etwas wollen, nie diejenigen, die blockieren.

STANDARD: 0,08 Prozent der EU-Bevölkerung haben an Events zur Zukunft Europas teilgenommen. Beunruhigt Sie dieser Wert, oder reichen ein paar gute Ideen von ein paar schlauen Köpfen?

Karas: Der Prozess ist ja noch nicht abgeschlossen, sollte auch nicht zeitlich begrenzt werden, und außerdem haben wir gerade eine Pandemie. Ich höre, dass die Bürgerforen an Dynamik zunehmen. Es ist aber auch ein Selbstverschulden der Politik, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht glauben, dass ihr Engagement etwas bewirkt.

Karas spricht in der Folge ausführlich darüber, dass das Projekt Europa ja noch nicht fertig sei. Dass man an Europa immer weiter bauen müsse. Er zitiert Robert Schuman, einen der Gründerväter der EU, spricht über verschiedene Ereignisse, die man nur miteinander lösen könne, indem man aufeinander zugehe. Er macht klar, dass er "nationalistische Schneckenhäuser" ablehnt. Er sagt auch, dass die EU besonders seit der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise ab 2008 an ihre Grenzen komme, weil sie nicht bereit sei, bestimmte Themen gemeinschaftlich zu beantworten – sei es die Corona-Pandemie, die Ukraine-Krise oder der Klimawandel. Um die Probleme zu lösen, brauche es entsprechende Kompetenzen, urgiert er.

Karas: Ich bin dafür, dass das EU-Parlament aus den Ergebnissen der Zukunftskonferenz die fünf wichtigsten Themen herausfiltert und dass die Politik bis zur nächsten Europawahl anhand konkreter Projekte daran gemessen wird, wie es mit den Wünschen, Kritikpunkten und Vorstellungen umgegangen ist. Ich habe dafür noch keine Mehrheit, aber ich würde die Europawahl auch gerne mit einem zweiten Stimmzettel versehen, einem direktdemokratischen Element – eine Art Volksbefragung über die notwendigen Verfassungsänderungen, damit eine Mehrheit der Bevölkerung und Staaten die Rahmenbedingungen ändern kann.

STANDARD: Sie wollen etwa über den Wegfall der Einstimmigkeit abstimmen lassen?

Karas: Genau. Es darf auch keine Entscheidungen ohne das Europäische Parlament geben. Aber Europa ist immer auch eine Frage der Kommunikation. Das fängt schon damit an, dass Österreich oder Deutschland bei jeder Entscheidung in Europa dabei ist und nie andere über uns entscheiden und wir immer mitentscheiden.

STANDARD: Aber ist nicht das genau das Problem, dass jeder immer dabei ist? Die Idee einer Abschaffung der Einstimmigkeit wäre ja auch, dass die anderen 26 Staaten über uns mal "drüberfahren", wenn es halt eine klare Mehrheit so will.

Karas: Es geht ja nicht ums "Drüberfahren", es geht um die demokratische Mehrheit. Parlamentarismus heißt genau das und die Suche nach dem Kompromiss. Die Einstimmigkeit halte ich für undemokratisch. Langfristig gesehen bin ich auch dafür, dass die zweite Kammer, die Länderkammer, also der Rat, genauso direkt gewählt wird, ähnlich dem US-Senat. Und dass nicht die Spielregeln andere sind: einmal parlamentarische Mehrheit hier, einmal Einstimmigkeit da.

Karas mag Sätze, die Verbundenheit, Gemeinsamkeit oder Zusammenhalt ausdrücken. "Europa ist kein Entweder-oder, kein Ich-oder-wir, kein Österreich-oder-Europa. Nur über die Rücksichtnahme auf das Du kommen wir zum Wir", sagt er. "Die EU darf auch nicht als Opposition zu uns gesehen werden", heißt es wenig später. Er wird solche Sätze der Solidarität und des Zusammenhalts während des Gesprächs immer wieder wiederholen. Er sei einfach so, sagt er.

STANDARD: Aber warum sind wir noch nicht weiter, wenn Sie eh mehr Europa wollen? Sie sind eine wichtige Stimme in der EVP, Teil der größten Parteienfamilie im EU-Parlament, die EVP stellt die Kommissionspräsidentin, die Parlamentspräsidentin, je nach Zählart sieben oder acht Regierungschefs und acht Mitglieder der Kommission. Früher war die EVP gar noch mächtiger.

Karas: Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass die Welt schwarz-weiß ist. Es wäre auch ein Fehler, zu glauben, dass es immer eine Minderheit ist, die blockiert. Es ist der mangelnde politische Wille, nicht nur Sonntagsreden zu halten und der Bevölkerung zu sagen: Wir brauchen hier mehr Zusammenhalt und Veränderungen in den Abläufen. Das hat tatsächlich Gegner in allen politischen Parteien. Daher bin ich so sehr für die Stärkung der Parlamente, des freien Mandats und der Eigenverantwortung. Es ist wichtig, dass sich jeder für sich einbringt und nicht hinter anderen versteckt.

STANDARD: Auf Ihrer Homepage prangt groß das Wort Überparteilichkeit.

Karas: Ja, das muss uns auch vereinen. Politische Parteien sind Instrumente der Demokratie. Aber ich habe gelernt, dass ein Mensch mit einer anderen Meinung als ich genauso recht haben kann wie ich. Diese Kultur ist in vielen Fällen hinter die Schuldzuweisung und die parteipolitische Auseinandersetzung zurückgetreten.

Karas kennt die parlamentarischen Prozesse in- und auswendig. Formelle wie informelle. Er erklärt, wie sich das Parlament seit Jahren von jedem neuen Kommissionspräsidenten zusichern lässt, dass Initiativen ernstgenommen werden müssen – auch ohne formale Festschreibung in den Verträgen. Ebenso wie sich Kommissionspräsidenten zusichern lassen, einzelne Kommissare zum Rücktritt zwingen zu können, damit nicht die Kommission geschlossen zurücktreten muss wie in den Verträgen vorgesehen. Amtsmüde wirkt er nicht, ungeachtet dessen, dass seine aktuell jüngste Mandatskollegin gerade mal ein Jahr alt war, als Karas 1999 erstmals als Parlamentarier nach Brüssel ging.

STANDARD: Ist das Parlament zu alt?

Karas: Bei jeder Parlamentswahl sind knapp 50 Prozent der Abgeordneten neu im Plenum. Es ist eines der weiblichsten und jüngsten Parlamente. Obwohl ich aus den Jugendorganisationen komme, bin ich auch hier gegen ein Entweder-oder. Es ist immer gut, wenn es eine gewisse Mischung gibt. Aber: Die Europäische Union ist ein junges Projekt, und sie muss primär ein Projekt der Jugend sein, was ihre Entwicklung anbelangt.

STANDARD: Soll es transnationale Listen geben?

Karas: Ja, ich bin dafür, dass es ein Zweistimmensystem gibt. Direktmandate auf nationalen Listen. Reststimmenmandate auf überregionalen Listen. Wir sind alle europäische Abgeordnete, die ihre Erfahrungen aus den Ländern mitbringen, um europäische Politik zu machen. Es muss auch das Spitzenkandidatenmodell verankert werden.

STANDARD: Und respektiert werden!

Karas: Ja, das war eine schwere Niederlage für das Parlament, hat aber auch der Kommission nicht gutgetan. Aber das sind Detailfragen. Dafür sind wir verantwortlich. Für die Bürger ist wichtig, dass die EU demokratisch und handlungsfähig ist und einen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen leisten kann – und nicht durch eigene Rituale und Eitelkeiten Lösungen blockiert werden.

Angesprochen auf seine Neujahrswünsche in den sozialen Medien, die viele als Vorbereitung auf eine mögliche Präsidentschaftskandidatur in Österreich gedeutet haben, sagt Karas, dass er selbst der erste ÖVPler gewesen sei, der Van der Bellen unterstützt und einen "nicht unwesentlichen Beitrag" zu seinem Erfolg beigetragen habe. Der Respekt vor dem Amt gebiete es, einen Wahlkampf nicht vorzuziehen, ehe der Bundespräsident selbst diesen eröffnet. Deshalb stelle sich diese Frage für ihn gar nicht. Das Video beschreibe einfach seine Art, Politik zu machen, und diese sei der Grund für das große Vertrauen, das ihm bei der Wahl zum Vizepräsidenten der EU entgegengebracht wurde. Er würde es auch jetzt nochmal so posten.

STANDARD: Sie sehen sich aber schon noch als ÖVPler?

Karas: Immer. Ich bin Christdemokrat, aber ich bin ja nicht als Parteipolitiker auf die Welt gekommen, sondern als Mensch, der sich mit seinen Werten, Erfahrungen und Positionen in die Problemlösung einbringt. Ich verstehe mich als weltoffener, bekennender Christdemokrat. Und der Respekt für das Miteinander ist die Grundlage meines Handelns. Und man kann ja auch nur etwas bewirken, wenn man für andere berechenbar ist. Man kann ja kein Fähnchen im Wind sein. Die Menschen müssen wissen, wofür einer steht! (Fabian Sommavilla, 22.1.2022)