Mit dem Metaverse will Facebooks Mutterkonzern unser Leben in die digitale Welt verlegen.

Foto: Metaware

Der STANDARD feiert seine zehntausendste Ausgabe. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit der Zahl Zehntausend.

Hey, Stefan Mey!" höre ich jemand rufen. Ich drehe mich um, sehe ihn aber nicht. Wer ist das, woher kennt er meinen Namen? Ach so, stimmt. Der steht ja über meinem Kopf, während ich durch die Halle gehe. Also, nicht über meinem eigenen Kopf, sondern über dem meines Avatars, meines virtuellen Alter Ego.

Ich befinde mich im Metaversum, für 10.000 Sekunden, also ziemlich exakt 2,8 Stunden. Ich will wissen, wie wir in Zukunft interagieren, arbeiten, erleben werden – zumindest, wenn es nach der Vision der großen Tech-Konzerne geht. Die digitale Parallelwelt "Metaverse" soll der Nachfolger des Internets werden, ein Raum, in dem digitale Währungen Standard sind, in der man in Form von Avataren mit anderen Menschen und Softwareangeboten kommunizieren kann. Die Frage, die mich umtreibt: Wollen wir das?

Freunde, die ich nicht haben will

Um das zu erfahren, habe ich mir eine Quest 2 aufgesetzt. Die VR-Brille ist das aktuelle Flaggschiff von Meta, dem Konzern, der früher Facebook hieß, sich Ende 2021 aber umbenannte und kurzerhand die virtuelle Realität als die Zukunft der Kommunikation, des Spielens und Arbeitens ausrief. Dazu liefert das Imperium um Gründer Mark Zuckerberg auch die passende Software: In Nordamerika ist mit dem Programm Horizon Worlds bereits eine erste echte Blaupause des Metaversums verfügbar. Hierzulande gibt es mit Horizon Venues vorerst nur eine abgespeckte Version, eine Art virtuelles Eventgelände, auf dem man zum Beispiel Konzerte oder Wrestlingkämpfe verfolgen kann. Und genau hier befinde ich mich gerade.

Während ich noch rätsle, woher die mysteriöse Stimme in meinem Kopf kam, stürmt der nächste Avatar auf mich zu und beginnt, wild zu tanzen. Ein anderer pikst mir mit seinen virtuellen Fingern in den Augen herum. Ich suche wortlos das Weite und höre hinter mir noch ein "Warte, bleib!", bevor flugs eine Freundschaftsanfrage folgt. Es erinnert ein wenig an die Nullerjahre im österreichischen Social Web, als jeder mit jedem befreundet sein wollte und man dafür völlig Fremde nur kurz "poken", also anstupsen musste.

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Zahlreiche Datenschutz- und Hate-Speech-Skandale später sind wir im Social Web deutlich vorsichtiger bei der Wahl unserer Freunde geworden, aber Geschichte ist schließlich Wiederholung – selbst wenn sie in einer Parallelwelt stattfindet. In den USA gibt es bereits Berichte über Fälle von sexueller Belästigung im Metaversum. Meta, formerly known as Facebook, steuert gegen und hat diverse Tools für das Melden und Blockieren digitaler Grindbatzen eingeführt.

Ich flüchte vor den Freunden, die ich nicht brauche, zu einem der angepriesenen Events im Metaversum: einem Wrestlingkampf. Wrestling ist brutal, aufdringlich, ein wenig billig und insgesamt also toll. In der realen Welt ein Publikumserfolg. Wie sieht es in der virtuellen aus? In der ersten Reihe schwärmt ein Typ, dass es sich anfühle, als sei er selbst mitten im Ring. Dabei wedelt er mit seinen virtuellen Armen, die durch einen Grafikfehler auf eine groteske Länge von zwei Metern angeschwollen sind. Die Technologie mag in den vergangenen Jahren große Sprünge gemacht haben, aber sagen wir so: Es gibt noch Luft nach oben. Überhaupt stelle ich nach kurzer Zeit fest, dass es sich bei dem Kampf gar nicht um eine Live-Übertragung handelt, sondern um einen Best-of-Zusammenschnitt. Langweilig! So empfindet offensichtlich auch die Gruppe sehr selbstbewusster Männer, die sich wieder nach draußen verzogen hat, um sich lautstark über ihre Krypto-Investments zu unterhalten. Bitcoin, Shitcoin, nix wie raus hier.

Hilfe, Raptoren!

Was in puncto Metaversum oft missverstanden wird: Es gibt nicht eines, sondern viele mit unendlich vielen Anwendungsmöglichkeiten. Eigentlich ist jedes Multiplayerspiel – von Fortnite bis Pokémon Go – ein kleines Metaversum, in dem die Gamerinnen und Gamer miteinander interagieren. Bis 2025 werden mit Gaming laut Juniper Research weltweit 260 Milliarden US-Dollar pro Jahr umgesetzt. Dieser prosperierende Markt ist es auch, der die Fantasien der Tech-Giganten in Bezug auf das Metaverse ankurbelt. So kündigte etwa Microsoft diese Woche die knapp 70 Milliarden Dollar teure Übernahme des Spieleherstellers Activision-Blizzard an. Ein Teil der Strategie: Games für das Metaversum zu entwickeln und dort ein neues Geschäftsfeld aufbauen.

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Also probiere ich ein Spiel aus. In Jurassic World: Aftermath bewege ich mich durch den verlassenen Dinosaurierpark, während ich Rätsel lösen und mich vor bösartigen Velociraptoren verstecken muss. Ich stelle mich nicht schlecht an. In der echten Welt bietet sich meiner Familie ein anderes Bild: Stefan, der mit einer großen VR-Brille vor den Augen panisch mit den Armen fuchtelt und wild ausschlägt. Ein lautes Scheppern. Ich habe einen Blumentopf erwischt. Egal, schnell die Scherben aufgekehrt und zurück auf die virtuelle Südseeinsel. So befremdlich die Begegnungen mit Menschen in Horizon Venues sind, so mitreißend sind die Spiele, die mich auf Wunsch auch auf die Internationale Raumstation ISS oder in Scifi-Universen wie jene von Star Wars oder Star Trek entführen.

Mir bleiben nur noch 1000 Testsekunden im Metaverse. Mein Adrenalinspiegel ist von der Dino-Challenge hochgepeitscht, vor dem Schlafengehen will ich herunterkommen. Ich entscheide mich für eine App, die mehr virtuelles Erlebnis als Spiel ist: We Live Here versetzt mich in das Zelt einer Obdachlosen, in liebevoll gestalteten 3D-Animationen wird mir ihre Lebensgeschichte erzählt. Von jedem Objekt in ihrer bescheidenen Unterkunft erfahre ich, warum es für sie einen unverzichtbaren emotionalen Wert hat – und als am Ende ihr Zelt von der Polizei geräumt und die Gegenstände achtlos in einen Müllsack geworfen werden, habe ich feuchte Augen.

Learnings

Time over. Was habe ich in 10.000 Sekunden gelernt? Ja, das Metaversum ist Teil unserer Zukunft. Aber nicht für alles. Und nicht für jeden. Social Networks sind auf dem Handy leichter zu bedienen als in dreidimensionalen Räumen, das Gleiche gilt fürs Arbeiten: Warum sollte ich mich mit dem Avatar meiner Chefin unterhalten, wenn ich per Zoom auch ihr echtes Gesicht sehen kann? Games und interaktive Filme wie We Live Here zeigen aber, wo das wahre Potenzial liegt: Es sind Erfahrungen, die sich wie echte Erlebnisse anfühlen und Emotionen wecken, die intensiver spürbar sind als bei klassischen Filmen und Computerspielen.

Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss weg – es gibt einfach noch zu viele Metaversen da draußen, die darauf warten, entdeckt zu werden. Und man darf ja auch mal die Zeit überziehen. (Stefan Mey, 23.1.2022)