Die Sichtweise der Europäer auf Russland hatte immer etwas Naives, war mit fundamentalen Irrtümern behaftet.

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Nie wieder Krieg in Europa. Das war die Sehnsucht, das zentrale Ziel, das die sechs Gründerstaaten der EU im Westen des Kontinents unter französisch-deutscher Führung gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs antrieb. Sie gingen es mit der Gründung der Montanunion und später einer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) an. Und sie hatten Erfolg.

Bis zum EU-Austritt Großbritanniens Anfang 2020 war die Union auf 28 Mitglieder angewachsen. Sechs Staaten des Westbalkans sind Beitrittsanwärter. Die Erweiterung ist ins Stocken geraten. Aber es gibt die gemeinsame Währung Euro in 19 Ländern, Kontrollen an den Binnengrenzen entfielen fast überall. Wirtschaftlich ist die EU eine globale Macht.

Das weite Europa wurde im Postnationalismus ziemlich komplex. Mit sechs Staaten der Schwarzmeerregion, ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion, die sich 1991 aufgelöst hatte, pflegt die EU eine enge Östliche Partnerschaft, sprich privilegierte Wirtschaftsbeziehungen. Diese funktioniert nach viel Auf und Ab seit dem Start 2009 mit den kleinen Ländern Georgien und der Republik Moldau gut, in großem Stil auch mit der Ukraine.

Elf Milliarden für Ukraine

Das riesige Flächenland hat seit 2013 elf Milliarden Euro Wirtschaftshilfe bekommen. Das ist viel bei einer Wertschöpfung pro Kopf, die nur einen Bruchteil jener in der EU ausmacht. 2017 trat das Assoziationsabkommen in Kraft, das 2013 durch massiven Druck aus Moskau auf den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch verhindert worden war. Demonstrationen proeuropäischer Bürger ("Maidan") wurden mit Gewalt der Staatsmacht bekämpft, es folgte 2014 die russische Intervention samt Annexion der Krim.

Dennoch: Heute können Ukrainer visafrei in die EU einreisen. Hunderttausende Menschen sind jedes Jahr gen Westen gezogen, um dort legal zu leben und zu arbeiten. Die EU-Beziehungen zu Aserbaidschan und Armenien sind lockerer, aber gut, nicht zu vergleichen mit Belarus unter dem diktatorischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Seit dieser 2020 Wahlen fälschen ließ, die Opposition zerschlug, Migranten als "Waffe" an Grenzen zu Polen und Litauen einsetzte, werden die EU-Sanktionen ständig verschärft. Eiszeit.

Putins andere Weltsicht

In langer Perspektive ist die Neuordnung Europas von Erfolgen, aber auch vielen Rückschlägen gekennzeichnet. Die Ukraine entwickelte sich nach der Machtübernahme Wladimir Putins im Jahr 2000 zu einem Brennpunkt. Ein breiter Streifen vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee ist für die EU ein Gebiet souveräner Staaten, für Putin "sein" Einflussgebiet. Zwei Welten nach wie vor.

Es begann 1989 mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991, mit dem Umbau bzw. der Auflösung der militärischen Blöcke von Nato und Warschauer Pakt. Der im Dezember durch russische Militärmanöver erneut angeheizte Konflikt um die Ukraine, der nun in Genf zwischen den USA und Russland besprochen wurde, ist ein Puzzlestein mit langer Vorgeschichte (siehe Lexikon unten).

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten waren oft nur Zuschauer. Ihr Konzept fußte auf wirtschaftlicher (und auch politischer) Erweiterung. Die Sichtweise der Europäer hatte aber immer auch etwas Naives, war mit fundamentalen Irrtümern behaftet. So wurde über all die Jahre stets verdrängt oder schöngeredet, dass der Autokrat Putin ein völlig anderes Verständnis davon hatte, wie Nachbarstaaten sich entwickeln sollten. Moskau will Länderpartner dominieren.

Recht auf Selbstbestimmung

Was nun in der Ukraine passiert, davor in Belarus, 2008 in Georgien, oder bereits im Jahr 1991 in den damaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, deren "Singende Revolution" von russischen Panzern fast niedergewalzt worden war, hat viel mit einem Clash von Kulturen und Geschichte zu tun. Die EU-Länder setzten auf freie Staaten und deren Recht auf Selbstbestimmung. EU-Mitglieder bleiben souverän, integrieren sich langsam. Sie koordinieren sich über Verträge und eine gemeinsame Zentrale, die Kommission in Brüssel. Niemand sollte andere beherrschen. Alle unterwerfen sich den Prinzipien von Demokratie, Freiheit und vor allem der Rechtsstaatlichkeit – daher auch der harte interne Konflikt mit Polen und Ungarn.

Die militärische Sicherheit wurde lange der Nato unter Führung der USA überlassen. Diese Sicht dreht sich gerade. Neutrale Staaten wie Schweden und Finnland denken nicht zufällig über einen Nato-Beitritt nach. Den Europäern wird bewusst, dass die USA es ernst meinen könnten mit ihrem Rückzug aus Europa. Deshalb hat Frankreichs Präsident im EU-Parlament diese Woche eine erneuerte Sicherheitsarchitektur verlangt. Die Union muss sicherheitspolitisch auf eigene Beine kommen, eigene Strategien entwickeln, wie sie im Bündnis mit den USA und gleichzeitig neben Russland ihren Frieden findet.

Liberale oder gelenkte Demokratie

Seit den Gründungsverträgen der EU in Rom 1957 gilt, dass im Prinzip jeder Staat auf dem Alten Kontinent das Recht hat, der Gemeinschaft beizutreten: also nicht nur die Mittel- und Osteuropäer vom Baltikum über Polen, Tschechien, Ungarn bis Bulgarien, die in zwei Wellen 2004 und 2007 EU-Mitglieder wurden (parallel auch in der Nato). Offen ist die Union auch für den Westbalkan, die Türkei, die Länder der Schwarzmeerregion, theoretisch auch Russland.

Mit diesem Konzept der liberalen Demokratien haben es die EU-Staaten sieben Jahrzehnte lang geschafft, den Frieden zu wahren. Man glaubte lange, das gehe einfach immer so weiter. Der Schock in den 1990er-Jahren, als nach der Auflösung des blockfreien Jugoslawien hintereinander vier Kriege zwischen den ehemaligen Teilrepubliken ausbrachen, mit mehr als hunderttausend Toten und Millionen Flüchtlingen, wurde verdrängt. Seit 1999, dem Ende des Kosovokrieges, herrscht dort Frieden, mit zig EU-Milliarden "erkauft". Slowenien und Kroatien wurden EU-Mitglied.

Die Ukraine, die wie Georgien und die Republik Moldau gerne der EU und der Nato beitreten würde, muss hingegen befürchten, im vierten Jahrzehnt der Neuordnung Europas unter die Räder zu kommen. In den Machtzentren wird sehr konkret über die Möglichkeit eines "heißen Krieges", eine russische Militärintervention, geredet. Darauf waren die EU-Staaten nicht vorbereitet – eine möglicherweise schlimme Fehleinschätzung. (Thomas Mayer, 22.1.2022)