Die Politikwissenschafter Barbara Prainsack und Hendrik Wagenaar schreiben in ihrem Gastkommentar, wie gute Politik funktionieren könnte – und woran es hakt.

Im Englischen gibt es für die Kernaufgabe von Politikerinnen und Politikern einen präzisen Begriff: "policy making". Die deutsche Sprache hat dafür keine genaue Entsprechung; was Parlament und Regierung tun, wird in der Regel mit "Politik" beschrieben. Dabei ist der Unterschied bedeutend: Während Politik im engeren Sinn ("politics") den Prozess der Ausverhandlung von Interessen im öffentlichen Raum meint, bezeichnet "policy making" die Umsetzung politischer Ziele in öffentliches Handeln.

In Zeiten wie diesen wäre es wichtig, über einige zentrale Prinzipien des "policy making" nachzudenken. Die Policy-Theorie hat viel darüber zu sagen, was staatliches Handeln leisten kann und was nicht.

Illustration: Fatih Aydogdu

Nehmen wir das Beispiel der Impfpflicht. Das Problem, das hier gelöst werden soll, ist ein reales und dringendes: Mit Appellen an die Verantwortung der Menschen auch für die Gesundheit der anderen konnte keine ausreichend hohe Impfrate erreicht werden. Dass die Politik hier tätig wird, ist richtig. In einer Situation, in der das Gesundheitssystem seine Kapazitätsgrenzen zu überschreiten droht, ist die Impfung keine rein individuelle Entscheidung.

Oft ideologiegeleitet

Zur Lösung jedes Policy-Problems stehen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung: zum Beispiel Information (Aufklärungskampagnen, individuelle Beratung), finanzielle Instrumente (Anreize, Steuern, Subventionen) oder die Schaffung neuer Netzwerke (die stärkere Einbindung von Vertrauenspersonen auf lokaler Ebene in die Impfkampagne). Verpflichtungen für Bürgerinnen und Bürger – wie eben eine allgemeine Impfpflicht – sind eine weitere Möglichkeit. Idealerweise sollten jene Politikinstrumente gewählt werden, die die höchste Effektivität und die geringsten Kosten versprechen.

In der Praxis wird die Wahl politischer Instrumente jedoch oft von Ideologie bestimmt. Wer etwa in neoliberaler Manier davon überzeugt ist, dass soziale Probleme am besten dadurch zu lösen sind, dass man einzelne Bürgerinnen und Bürger dazu bringt, sich "besser" zu verhalten, der findet individuelle Anreize attraktiver als Investitionen in strukturelle Faktoren wie Bildung oder Kinderbetreuung. Politikgestaltung, die nicht von Ideologie oder Parteiräson geleitet ist, muss die Effektivität unterschiedlicher Instrumente im Vergleich zu den zu erwartenden Kosten sorgfältig abwägen. Zu den Kosten gehören dabei nicht nur die direkten materiellen Aufwendungen für die Um- und Durchsetzung des Instruments, sondern auch indirekte und unbeabsichtigte Kosten. Im Fall der Impfpflicht sind neben dem zusätzlichen Zeit- und Personalbedarf für Verwaltungsstrafverfahren auch nicht in Geld messbare Folgen in Betracht zu ziehen – wie etwa ein möglicher Verlust des Vertrauens der Menschen in die Politik, der dann eintritt, wenn prominent diskutierte und moralisch aufgeladene Projekte letztlich nicht effektiv umgesetzt werden können.

"Wenn ein Ziel nicht umsetzbar ist, dann schadet auch schon der Versuch. Auch deshalb sind die politischen Landschaften weltweit mit den Trümmern gescheiterter politischer Projekte übersät."

Die Umsetzung können staatliche Institutionen übrigens nicht allein bewerkstelligen. Sie sind dabei sowohl auf die Verwaltung als auch auf die Mitwirkung der Zivilgesellschaft angewiesen. Damit hat man es aber mit einer sehr heterogenen Gruppe von Akteurinnen und Akteuren zu tun, die jeweils unterschiedliche Werte, Ziele und Bedürfnisse haben. Gelingt es nicht, diese Gruppen mit ins Boot zu holen, dann nimmt das Politikinstrument unter Umständen im Zuge seiner Umsetzung eine andere Form an als von ihren Erfinderinnen und Erfindern intendiert.

Trotz all seiner besonderen Befugnisse ist der Staat in der Praxis an die Logik der Politikgestaltung gebunden. Bevor die Politik ein großes Ziel in Angriff nimmt, sollte sie sich immer fragen: Kann es auch verwirklicht werden? Wenn ein Ziel nicht umsetzbar ist, dann schadet auch schon der Versuch. Auch deshalb sind die politischen Landschaften weltweit mit den Trümmern gescheiterter politischer Projekte übersät. Der derzeit aufkommende Fatalismus, der eine "Durchseuchung" als akzeptable Strategie erscheinen lässt, ist das jüngste Symptom eines solchen Politik-Wracks.

Vorsicht bei Verpflichtung

Wie sieht gutes "policy making" aus? Erstens: Wer (nicht nur in der Pandemie) effektive Politik machen möchte, muss die Zielgruppen genau kennen. Effektive Politikinstrumente müssen auf die spezifischen Merkmale und Bedürfnisse der Zielgruppen zugeschnitten sein. Zweitens muss die Zivilgesellschaft in die Gestaltung und die Umsetzung eingebunden sein. Drittens ist Vorsicht mit rechtlich bindenden Pflichten geboten. Sie mögen oberflächlich betrachtet leicht umsetzbar scheinen, ihre direkten und indirekten Kosten können aber größer sein als der positive Effekt, den man mit ihnen erzielt. Politische Großprojekte, die nicht umgesetzt werden können, riskieren, dass das Vertrauen der Bevölkerung in "die Politik" weiter abnimmt.

In der derzeitigen Situation wäre es zudem dringend notwendig, jenen Themen Aufmerksamkeit und Ressourcen zu widmen, die das Leben der Menschen verbessern: Viele brauchen soziale, finanzielle oder auch psychische Unterstützung – nicht nur in der reichen Welt. Auch die Bekämpfung der Klimakrise und die Sicherung leistbaren Wohnens sind in der Pandemie nicht weniger wichtig geworden. Solche Themen spielen in der öffentlichen Debatte seit Wochen nur noch eine marginale Rolle, weil die Impfpflicht – aufgrund der zahlreichen rechtlichen, administrativen und logistischen Schwierigkeiten – so viel Raum einnimmt. Auch solche Verschiebungen gehören zu den versteckten Kosten von Politik. (Barbara Prainsack, Hendrik Wagenaar, 22.1.2022)