Die Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen erzeugen zunächst ein Gefühl von Stärke.

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Pandemien, Naturkatastrophen, ökonomische Ungleichheit: Der Lauf der Geschichte wird von Phänomenen vorangetrieben, die sich kaum begreifen lassen. Als "Hyperobjekte" bezeichnet sie der britische Philosoph Timothy Morton. Wir können diese Hyperobjekte zwar erkennen und bemerken, wie sie in unser Leben eingreifen – aber wir glauben aufgrund ihrer Komplexität nicht, dass wir sie beeinflussen können.

Als moderner Mensch lebt man also politisch und ökonomisch in einem Widerspruch: Es gilt das Leistungsprinzip, man soll Dinge aus eigener Kraft schaffen. Gleichzeitig fühlt man sich als Getriebener unkontrollierbarer Kräfte.

Das Versprechen von Fortschritt hat sich für große Teile der Bevölkerung in einen angsterfüllten Abwehrkampf umgewandelt: Mit jedem Jahr, das vergeht, ist man einen Schritt näher an der Klimakatastrophe; haben Kräfte außerhalb Europas technologisch und ökonomisch aufgeholt; sind wieder mehr Menschen Richtung EU geflüchtet.

Energiekosten steigen, der Traum vom Eigenheim ist für viele Menschen eine Illusion geworden, Kinderbetreuung ein ständiges Ringen um Ressourcen. Arbeitszeiten werden flexibler – also länger und unregelmäßiger; der eigene Berufsweg ist von Unsicherheit geprägt. Wie schön wäre es für viele, zu all dem "Nein, stopp!" sagen zu können?

Kein Vertrauen in die Politik

Theoretisch müsste das über politische Partizipation erfolgen: über die Wahl jener Parteien, die dann die eigenen Interessen im Parlament vertreten. Doch gerade im unteren Einkommensdrittel manifestiert sich eine enorme Politikverdrossenheit. Nur 18 Prozent aus dieser ökonomischen Schicht denken laut Sora-Demokratiemonitor, dass "Menschen wie ich im Parlament gut vertreten sind". Im oberen Einkommensdrittel sind es immerhin 67 Prozent, das heißt aber auch: 33 Prozent eben nicht.

Der Ausdruck dieser tiefen Unzufriedenheit muss sich über kurz oder lang manifestieren – und da kommt die Corona-Impfung ins Spiel. Sie bietet den Enttäuschten die Chance, Protest gegen "das System" einzulegen und wider jede Rationalität den Stich zu verweigern. Ein Akt, der schockiert; der aber eine vermeintliche Rückeroberung von Autonomie bedeutet.

"Diesen extremen Widerstand gegen faktenbasierte Argumentation kann ich mir dadurch erklären, dass es diesen Leuten um ihre Identität geht", analysierte der Sozial- und Medienethiker Alexander Filipović bei der Podiumsdiskussion "Semesterfrage" der Universität Wien, die in Kooperation mit dem STANDARD stattfand.

Universität Wien

Protest als Identitätsstärkung

Wie stärkt man die eigene Identität? Die Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen erzeugen zunächst ein Gefühl von Stärke: Es ist ein Gefühl der Macht, wenn man mit zehntausenden anderen über den Wiener Ring zieht, um den eigenen Unmut über "das System" kundzutun.

Auch Verschwörungsmythen haben diesen Effekt. Man ist ein vermeintlich wissend und hat im Unterschied zur breiten Masse die "wahren Zusammenhänge" durchschaut.

Der Protest gegen Ungleichheit wird so auf völlig verquere Art und Weise ausgedrückt; teils in unerträglichen antisemitischen Erzählungen, teils in widersinnigen Märchen über "die Pharmaindustrie" oder die "Bill-Gates-Stiftung", die mittels Impfung die DNA der Menschen manipulieren will. Auch der Kult rund um den erfundenen Whistleblower Q, der von Kindesmissbrauch durch Superreiche und Politiker fantasiert, ist mittlerweile bei den österreichischen Corona-Demos angekommen.

Diffuse Ängste

Diese Erzählungen sind brandgefährlich und dürfen nicht verharmlost werden. Aber sie entstehen auch aus einem diffusen Gefühl von Kontrollverlust und von realen Problemstellungen. Kann man nicht die Frage stellen, warum Menschen wie Bill Gates ein derartiges Vermögen anhäufen können, während andere kaum genug Geld zum Überleben haben?

Und warum dieses Vermögen dann für Zwecke verwendet wird, die eigentlich die ureigene Aufgabe des Staates oder der internationalen Gemeinschaft sind? Kann man nicht darüber diskutieren, warum Medikamente und Impfstoffe vor allem von profitorientierten Konzernen entwickelt werden?

Auch die Angst vor der ständigen Überwachung, etwa des eigenen Körpers, ist per se nicht irrational. Der französische Philosoph Michel Foucault beschäftigte sich schon vor über vierzig Jahren damit, wie der Staat immer mehr Zugriff auf den "Körper" seiner Einwohnerinnen und Einwohner erlangen will. Er bezeichnete das als "Biomacht": Die Bevölkerung soll gesund sein, Menschen ihre Körper pflegen und beschützen.

Unter dieser Lesart sind die Corona-Maßnahmen natürlich ein angsteinflößender Eingriff des Staates in die Sphäre des Individuums: Der Körper wird maskiert, getestet, geimpft und kontrolliert. Die gesellschaftliche Debatte darüber wurde von der türkis-grünen Regierung komplett verschlafen; Impfkampagnen wirkten halbherzig und wenig durchdacht.

Alternativlose Lösungen

Derartige Fragen müssen, von Vorurteilen und Verschwörungsmythen bereinigt, in der politischen Debatte wieder Platz finden. Ob man damit einen großen Teil der Protestmasse zurückholen kann, ist jedoch fraglich. Es seien antidemokratische Tendenzen zu beobachten, attestierte Sozialethiker Filipović bei der "Semesterfrage", denen man wohl nicht mit Demokratie begegnen könne.

In der Frage der Impfung haben sich die Regierung, die SPÖ und fast alle Neos-Abgeordneten auf einen zumindest indirekten Zwang geeinigt; während die FPÖ Ängste, Sorgen und Wut der Protestierenden noch verstärkt. Ein bekanntes Muster, das man etwa aus der Flüchtlingsfrage kennt – und das der Gesellschaft in puncto Klimaschutz noch dräut. Man denke an die Proteste der "Gelbwesten" in Frankreich, die gegen erhöhte Benzinpreise auf die Barrikaden gingen.

Es wirkt, als sei der Widerstand gegen die Impfpflicht, bei aller Kritik, die man an ihr äußern kann, mehr ein Symptom und nur das neueste Schlachtfeld eines gesellschaftlichen Kampfes.

Kein Zaubermittel gegen Spaltung

Schnelle Lösungen für eine stärkere Integration der Gesellschaft wird es nicht geben. Mehr politische Bildung, Wissenschafts- und Medienkompetenz zu erreichen dauert Jahre und verbraucht viele Ressourcen. Auch das Vertrauen in das politische System wird nicht so schnell wachsen. Gerade die aktuellen Korruptionsverdächtigungen scheinen die schlimmsten Vorurteile über eine bevorzugte Behandlung von Reichen oder gut Vernetzten zu bestätigen.

Einfach nur zuzusehen, wie sich mehr und mehr Menschen radikalisieren, ist allerdings keine gangbare Alternative. Die Gesellschaft halte es auf Dauer nicht aus, wenn sich zehn bis zwanzig Prozent ihrer Mitglieder derart abspalteten, sagte Filipović.

Besonders verheerend sei, dass sich Bürgerinnen und Bürger gegenseitig nicht mehr vertrauen, sagte der Politikwissenschafter Wolfgang Merkel in der Wiener Zeitung: Ein gewisses Misstrauen der Regierten gegen die Regierung sei in einer Demokratie durchaus erwünscht; doch wenn das Misstrauen zu stark werde und dann auch noch Institutionen erfasse, werde es gefährlich. "Die für mich riskanteste Ebene ist die dritte: wenn das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen untereinander verschwindet. Das haben wir in der Flüchtlingsfrage erlebt und erleben es jetzt mit Corona", sagte Merkel.

Noch kann man gegensteuern: mit mehr Transparenz im Regierungshandeln, mehr Empathie für tatsächlich alle Teile der Bevölkerung statt Klientelpolitik und mehr Einbindung ins politische Geschehen. Aber auch auf individueller Ebene: "Die beste Chance, jemanden zu beeinflussen, hat man durch eine persönliche Beziehung", sagte die Sozialforscherin Pia Lamberty im STANDARD-Gespräch. Gleichzeitig müsse man rote Linien setzen: Wenn sich jemand einen sogenannten Judenstern anheftet, dann ist das erst einmal keine Grundlage mehr zum Diskutieren. (Fabian Schmid, 23.1.2022)