Die Pension hat sich der emeritierte Papst Benedikt XVI. wohl geruhsamer vorgestellt. Doch die Schatten der Vergangenheit haben das Kloster Mater Ecclesiae erreicht. Dort residiert mit Joseph Ratzinger ein Kirchenmann, der Wahrheit und Moral stets vor sich hergetragen hat wie die Monstranz zu Fronleichnam.

Zur Erinnerung: Als "Mitarbeiter der Wahrheit" hat sich der Kirchenmann mit dem wenig charmanten, aber bezeichnenden Spitznamen "Panzer-Kardinal" in seinem bischöflichen Wahlspruch bekannt, als Papst hat er eine Enzyklika über die "Liebe in der Wahrheit" verfasst. Geht es jedoch um die eigene Wahrheit, wartet man vergeblich auf weißen Rauch.

Das neue Münchner Missbrauchsgutachten lässt an Deutlichkeit nichts vermissen: 1900 Seiten, 173 beschuldigte Priester, 497 Betroffene. Ein Fazit: Über Jahrzehnte ging es nicht um die Opfer, sondern um das Image der Institution Kirche.

Es braucht ein Bekenntnis zu einer menschlichen Kirche. Einer Kirche, die von Menschen getragen wird.
Foto: imago images/ULMER Pressebildage

Und selbst wenn jetzt mit Benedikt XVI. ein Papst am Pranger steht und das Problem dadurch innerkirchlich neue Dimensionen erreicht hat: Des Übels Wurzel ist tief im System Kirche verankert. Es sind nicht die perversen Einzeltäter im Talar, die die katholische Kirche über Jahrzehnte zu einem Hort abscheulicher Gewalttaten gemacht haben.

Himmelschreiendes Unrecht

Immer wieder haben die klerikalen Hierarchien den Missbrauch an jungen Menschen zugelassen. Lieber hat man den Kopf in den Tabernakel gesteckt und das Weihrauchfass geschwungen, um die Sicht auf himmelschreiendes Unrecht zu vernebeln. Unter dem Dach der Barmherzigkeit wurden Täter ohne (kirchen)rechtliche Konsequenzen geschützt – einzig um den Schein der Heiligkeit zu wahren.

In jeder Bischofsbibliothek findet sich wohl auch heute noch ein Abdruck der vatikanischen Geheimdokumente "Crimen sollicitationis" (1962) und "De delictis gravioribus" (2001 verfasst von Kardinal Ratzinger). Betont wird darin, dass in Pädophiliefällen die ausschließliche Kompetenz beim Vatikan liegt. Höchste Geheimhaltung wird verlangt, geahndet nach Kirchenrecht. Streng genommen wurde im Fall der unzähligen Missbrauchsfälle in der Kirche nichts vertuscht. Geleistet wurden vielmehr Gehorsam und Loyalität gegenüber Rom.

Wenig zur Beseitigung dieses Systemfehlers hat bisher auch Papst Franziskus auf den Weg gebracht. Groß war die Hoffnung zwar 2019, als der Pontifex einen viertägigen Missbrauchsgipfel in Rom einberief. Doch über eine reine Symbolwirkung ging das Treffen nicht hinaus, konkrete Änderungen blieben aus. In Österreich muss man zumindest anerkennen, dass die katholische Kirche 2010, mit dem Druck der Öffentlichkeit im Genick, mit der Klasnic-Kommission einen neuen Weg der Versöhnung und der Wiedergutmachung gewählt hat.

Letztlich muss es aber dauerhaft gelingen, der Scheinheiligkeit zu entsagen. Es braucht ein Bekenntnis zu einer menschlichen Kirche. Einer Kirche, die von Menschen getragen wird. Menschen, die bis hinauf zum irdischen Chef nicht unfehlbar sind. (Markus Rohrhofer, 21.1.2022)