Ein Countdown in der Schau zählt die Toten europäischer Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert herunter. Es sollen 125 Millionen gewesen sein.

Foto: Kollektiv Fischka / Kramar

Das Attentat erschüttert die junge deutsche Republik: Vor fast genau hundert Jahren wird Außenminister Walter Rathenau in einem offenen Cabriolet überholt, eine Handgranate fliegt durch die Luft und explodiert, fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole treffen ihn tödlich. Die antisemitische Terrorgruppe Organisation Consul will mit der Ermordung des jüdischen Politikers 1922 die Weimarer Republik destabilisieren. Walther Rathenau gilt heute deshalb als erstes Opfer des Dritten Reichs, das die Attentäter später ehrte, sowie auch als Vordenker der europäischen Einigung unter wirtschaftlichen Vorzeichen. Denn er träumte bereits Jahrzehnte vor der europäischen Einigung von einer Zollunion im Zentrum Europas.

Gleichzeitig forderte er während des Ersten Weltkriegs erfolgreich den Einsatz belgischer Zwangsarbeiter. Die Figur Walther Rathenau ist ambivalent – so wie Europa.

Nicht zufällig ist ihm die erste Station in der aktuellen Ausstellung Die letzten Europäer im Wiener Volkskundemuseum gewidmet. Zur Begrüßung der Besucher zählen rote Ziffern bedrohlich einen Countdown herunter. Europa stecke durch Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit in der Krise, heißt es programmatisch. 14 thematischen Stationen zeigen gleichermaßen Stern- wie auch finstere Stunden der europäischen Idee. Sie musste nach ihrer größtmöglichen Katastrophe, nach Auschwitz, erst einmal neu gedacht werden.

Gestalter des Kontinents

Der Fokus der Ausstellung – sie war bereits im Jüdischen Museum im vorarlbergischen Hohenems zu sehen – liegt dabei auf einzelnen Personen jüdischen Glaubens, und wie sie den Kontinent mitgestaltet haben. Unter ihnen findet sich eine ungarische Suffragette genauso wie ein österreichischer Buchhändler, ein deutscher Großindustrieller oder die französische Präsidentin des ersten gewählten Europäischen Parlaments. Der Jurist Raphael Lemkin seinerseits hatte in den 1920er-Jahren in Lemberg studiert und sich intensiv mit türkischen Gräueln in Armenien sowie später auch mit den Verbrechen der Nationalsozialisten befasst.

Er war zu dem Schluss gekommen, dass nur das Wort "Genozid" die systematische Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe angemessen beschreiben könne. "Gräuel" reiche nicht aus. Auf sein Betreiben hin erschien ein halbes Jahr vor Ende des Zweiten Weltkriegs ein Leitartikel in der Washington Post, der angesichts der systematischen Vergasung hunderttausender Juden in Auschwitz neuerdings von einem "Genozid" sprach. 1948 wurde der Tatbestand in der Formulierung Lemkins in das Völkerstrafrecht aufgenommen.

Gemeinsamkeiten gesucht

Mit schnellen Wegen, weniger Grenzen, einer gemeinsamen Sprache oder dem rechtlichen Schutz von Flüchtlingen sowie nationaler Minderheiten sollte der Kontinent zusammenwachsen. Dazu kam sein ökonomisches Fundament.

Ko-Kuratorin Michaela Feurstein-Prasser ist heute überzeugt, "dass die Europäische Union letztlich nicht wirklich zerbrechen wird, weil zu viel Geld und zu viele wirtschaftliche Interessen im Spiel sind". Ihr geht es mit der Schau darum, den Ist-Zustand Europas zu verstehen: Wer sind diese Europäer? Wie ticken sie? Wie lässt sich Europa weiterdenken? Was hält die Union trotz ihrer Krise am Leben?

Europa-Express im Stocken

Dass der Ist-Zustand schon einmal utopischer war, daran lässt die Ausstellung keinen Zweifel. Der Trans-Europa-Express ist ins Stocken geraten. So ist das "christlich-jüdische Abendland" heute zu einem Kampfbegriff geworden, um sich vom Islam und den rund 16 Millionen Muslimen in der EU abzugrenzen. Gegen einzelne Staaten laufen Vertragsverletzungsverfahren. Dazu kommen Fake News, Frontex und Neo-Faschismus.

Inhaltlich ist die Ausstellung aufschlussreich gestaltet, ihr Design und ihre symbolischen Gesten geben allerdings mitunter Rätsel auf. In einem blitzblauen Raum stehen Besucher vor Textblöcken und Videos, während die bunten Barcode-Europaflaggen von Rem Koolhaas als Gestaltungselement unkommentiert bleiben. Und der Countdown die Opferzahlen europäischer Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert – es sollen mindestens 125 Millionen Tote sein – erklärt sich ebenfalls nicht recht. Es ist verschmerzbar. Denn praktischerweise lässt sich die Ausstellung online gleich gut besuchen. (Stefan Niederwieser, 24.1.2022)