Die Aggressivität gegenüber Mitarbeitern des Handels erschrecke ihn, sagt Handelsverbandspräsident Stephan Mayer-Heinisch. Eine Meinung sei keine uneinnehmbare Festung. Es dürfe keine Niederlage sein, sie zu ändern. Er bewundere den ehemaligen deutschen Kanzler Konrad Adenauer, der sagte: "Was schert mich mein Geschwätz von gestern?"

STANDARD: Österreich ist seit Corona tief gespalten. Wird diese Kluft je wieder zusammenwachsen?

Mayer-Heinisch: In einer Demokratie müssen wir damit leben, dass jemand anderer Meinung ist. Das bedeutet nicht, diese kaufen zu müssen. Doch die Gesellschaft nahm eine Abzweigung, ich weiß nicht genau, wo, ab der nur noch mit Totschlagargumenten agiert wird. Das wurde nicht nur in Österreich modisch, sondern auch in Deutschland und Frankreich. Wir haben verlernt, tolerant, respektvoll, zivilisiert miteinander zu diskutieren.

Strengere Eintrittsregeln im Handel provozieren Konflikte.
Foto: Imago

STANDARD: Schauplatz vieler Konflikte ist der Einzelhandel. Wächst die Wut über 2G-Kontrollen?

Mayer-Heinisch: Was mich sehr erschreckt, ist diese Aggressivität und Unverschämtheit, mit der Leute unsere Mitarbeiter in den Geschäften behandeln. Mit Herablassung, intellektueller Selbstüberschätzung und ohne Erziehung. Wir sind in die Diskussionssteinzeit zurückgefallen. Auch in den Medien ist dieses Für und Wider nicht mehr spürbar.

STANDARD: 2G ist seit November im Handel Pflicht, nur hielt sich kaum einer dran. Eine österreichische Lösung. Wurschteln wir uns durch die Krise?

Mayer-Heinisch: Die Schweizer und Bayern wurschteln ebenso. Corona lehrt mich, dass wir nichts wissen. Wir bleiben aber in Debatten darüber stecken, ob ein Politiker für oder gegen etwas ist. Österreich ist nicht der Nabel der Welt. Wir sollten von Intensivmedizinern lernen, die sich dank offener Informationssysteme über die ganze Welt hinweg extrem schnell weiterentwickelt haben. Da gibt es keine ideologischen Grenzen – eine Meinung ist ja keine Festung, die man nicht einnehmen darf. Es darf keine Niederlage sein, sie zu ändern. Für Politiker wurde es jedoch schwer, von Entscheidungen abzurücken. Ich bewundere Herrn Adenauer, der sagte: "Was schert mich mein Geschwätz von gestern?"

STANDARD: Das würde uns zusammenkitten?

Mayer-Heinisch: Was haben die Unternehmen nicht alles gelernt, um durch die Krise zu steuern! Man sollte dieses Wissen zusammenlegen. Was war das anfangs für ein Theater wegen der Maske, wegen der Zutrittskontrollen in die Gastronomie. Letztlich alles künstliche Aufgeregtheit. Gehen wir professionell miteinander um, legen die Fakten auf den Tisch und ändern die eine oder andere Maßnahme. Das ist dann nicht der Sieg einer Partei, sondern ein Punktegewinn aller gegen Corona.

STANDARD: Der Handel hat seit Beginn der Pandemie bis zu 152 Einkaufstage verloren. Die befürchtete Pleitewelle blieb bisher aus. Sind viele Unternehmen krisenresistenter als gedacht?

Mayer-Heinisch: Einspruch. Wir haben allein 2020 rund 4.000 Händler verloren. Viele Unternehmen haben ihr gesamtes Eigenkapital, alle Reserven verbrannt, um zu überleben. Das werden wir erst in den nächsten Jahren spüren. Weil sie keine Kraft haben, um gegen Amazon zu kämpfen. An Lockdowns sind einige erstickt, an Financial Long Covid werden noch mehr ersticken.

STANDARD: Die Regierung gibt Milliarden für die Rettung des Handels aus. Wäre ein Teil dieses Geldes nicht besser bei armutsgefährdeten Selbstständigen oder jungen Arbeitslosen aufgehoben?

Mayer-Heinisch: Betriebe, die vor Covid gesund waren, gehören gefördert, weil sie für Arbeitsplätze sorgen. Die Hilfen sind aber extrem bürokratisch, nicht präzise genug. Das Einzige, was wirklich gut funktioniert hat, war Kurzarbeit. Sie dient vor allem den Mitarbeitern. Viele Unternehmen warten jedoch immer noch auf Fixkostenzuschüsse für den ersten Lockdown. Manch einer wurde vielleicht überfördert. Es gibt aber sehr viele, die den Laden nur noch mit Eigenkapital am Laufen halten. Dazu kommt die komplexe Situation rund um das Mietrecht, wo die Cofag nun Geld zurückfordert.

STANDARD: Droht im Handel infolge der Krise eine noch stärkere Konzentration auf wenige große Spieler?

Mayer-Heinisch: Die Konzentration ist schon jetzt sehr hoch. Bringen wir Händler um, geht die Buntheit der Städte verloren. Durch diese Verödung der Ortskerne droht enormer volkswirtschaftlicher Schaden. Denn diese Städte sind nicht lebenswert.

Stephan Mayer-Heinisch: "Was war das anfangs für ein Theater wegen der Maske, wegen der Zutrittskontrollen in die Gastronomie. Letztlich alles künstliche Aufgeregtheit."
Foto: Stephan Doleschal

STANDARD: Ein buntes Korallenriff ist der Handel schon lange nicht mehr. Österreich wirbt mit Bildern alteingesessener Betriebe um Touristen. Tatsächlich lassen sich diese im Herzen Wiens bald an einer Hand abzählen.

Mayer-Heinisch: Sehen Sie sich das Bürokratiemonster an, mit dem Betriebe kämpfen. Wir verlangen von Bauern, dass sie Landschaftsgärtner sind. Ein Bürgermeister sollte Stadtgärtner sein. Er muss sich um seine Handelslandschaft kümmern. Ohne Subvention der Bergbauern wachsen unsere Almen zu, was auch Folgen für den Tourismus hat. Aber wer kümmert sich um die Ortskerne, die wir verlieren? Wo ist die Fantasie, Städte zu entwickeln? Wo sind Förderungen, die den Handel in Städten unterstützen? Es wird einmal so weit kommen, dass die Gemeinde dem Betreiber eines Käsegeschäfts die Miete schenkt.

STANDARD: Drogerieriesen wie Müller bieten ohne jede Einschränkung all das an, was kleinen Fachhändlern von der Regierung verboten wurde. Sorgt dies zu Recht für Verbitterung in Ihrer Branche?

Mayer-Heinisch: Das war eine politische Entscheidung. Da hatten ein paar Firmen Glück. Ich möchte in dieser Situation nicht Politiker sein.

STANDARD: Ungebrochen ist der Expansionskurs internationaler Diskontkonzerne. Werden das die neuen Nahversorger?

Mayer-Heinisch: Sie sind es schon. Die Leute spüren die höheren Energiekosten, steigende Mieten, die Gebührenerhöhungen der Gemeinden, für Wasser bis hin zu Abfall. Das will eingespart werden. Das spielt jenen in die Hände, die preiswert sind.

STANDARD: Regional, bio, recycelt, CO2-neutral spielt es hier nicht. Die Lebensrealität vieler Konsumenten ist offenbar eine andere.

Mayer-Heinisch: Nachhaltige Ziele werden auf dem Altar des günstigen Einkaufs schnell geopfert. Unser aller Leben wird teurer. Es wird daher weniger oder günstiger konsumiert. Wir haben 40 Jahre ohne Inflation gelebt. Kein Mensch kann mehr damit umgehen. Die Jungen kennen sie nicht. Wir kommen aber in Zeiten, in denen wir mit Preissteigerungen leben lernen müssen.

STANDARD: Langfristig?

Mayer-Heinisch: Die Inflation ist gekommen, um zu bleiben, und sie wird uns in allen Lebensbereichen treffen. Viele Wirtschaftsweise sehen darin ein kurzfristiges Phänomen. Aber die weltpolitische Situation mit China ist unsicher. Wir haben eine Krise mit Russland und eine verfehlte Energiepolitik. Lieferketten funktionieren nicht. Es gibt Umstellungen in Umweltbereichen, die nicht gratis sein werden. Wo zeichnet sich Entspannung ab? Alles zeigt in Richtung Inflation.

STANDARD: Welche Folgen hat eine starke Teuerung für den Handel?

Mayer-Heinisch: Wir müssen uns Mitarbeiter weiter leisten können. Beschäftigungsintensiven Branchen mit Arbeitskräften in Österreich gehört ein Teil der Bürde abgenommen, statt weitere Amazon-Förderprogramme zu starten. Derzeit wird uns jedoch alles aufgelastet, was je erfunden wurde. Fehlt nur noch, dass das Arbeitsinspektorat vom Handel verlangt, Stiegengeländer zu beheizen.

STANDARD: Immer weniger Österreicher haben Lust auf einen Job im Verkauf. Was gedenken Händler zu tun?

Mayer-Heinisch: Unser Bildungssystem ist kompliziert, teuer und versagt dabei, jungen Leuten sinnerfassend Lesen oder Grundrechenarten beizubringen. Viele Händler bilden daher selbst aus, um Versäumnisse des Staates auszugleichen.

STANDARD: Was lehrt Unternehmer die Pandemie? Werden viele gestärkt aus ihr hervorgehen?

Mayer-Heinisch: Wir haben gelernt, wie sehr Mitarbeiter für ihre Unternehmen kämpfen. Wir haben gelernt, mit Lockdowns und Kontrollen umzugehen – bis auf jene, die ihre Geldgier staatlichen Regulatorien nicht unterordnen können. Und wir haben gelernt, dass eine Stadt ohne Handel tot ist. Unser Geschäft ist ein Biotop, das nur mit Gastronomie und Lebensmittelhandel gemeinsam funktioniert. Hätte ich einen Wunsch frei, so wäre es, das Eigenkapital der Betriebe zu stärken. Sie sollen nicht am Tropf der Banken hängen, sondern sich selbst aus der Krise wurschteln. (Verena Kainrath, 24.1.2022)