Monika Helfer schreibt seit drei Jahren an ihrer Familiengeschichte. Stoff scheint es mehr als genug zu geben.

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Rita Falks Rehragout-Rendezvous, Sebastian Fitzeks Der erste letzte Tag, Thomas Stipsits Uhudler-Verschwörung oder Bernhard Aichners Dunkelkammer – Krimis dominierten 2021 die heimische Bestsellerliste. Acht der zehn meistverkauften Titel im Bereich Belletristik gehörten vergangenes Jahr diesem Genre an. Die einzigen Neuerscheinungen unter den österreichischen Top Ten, die nicht auf Mord, Totschlag und Spannung beruhen, stammten von einem Vorarlberger Ehepaar. Er heißt Michael Köhlmeier und hat im Sommer Matou, ein Katzenabenteuer, vorgelegt (Platz acht), sie heißt Monika Helfer und hat in Vati Anfang 2021 das Leben ihres Vaters liebevoll fragend aufgerollt (Platz zehn).

Riesenerfolg mit Familiengeschichte

Lange war Helfers Schreiben mehr ein Geheimtipp. Die Auseinandersetzung der Autorin (74) mit ihrer Familiengeschichte hat das jedoch geändert, schon der Auftakt über die Familie ihrer Mutter, Die Bagage (2020), war ein Riesenerfolg. Nun liegt der dritte Teil, Löwenherz, vor und handelt von Helfers Bruder Richard. Der dachte immer ans Liegen und ließ sich auch sonst durchs Leben treiben. Er hatte "verquere Beine", beschreibt Helfer das in ihrer mit regionalen Ausdrücken sanft durchwirkten und darum so schönen Sprache. Was sie damit meint? Er "schlenderte vor sich hin, wohin sie ihn eben führten" und ganz so als "ob er es niemals eilig hätte". Die "verqueren Beine" sind zugleich durchaus konkret. Denn als Kind an der englischen Krankheit (Rachitis) erkrankt, hat Richard davon zeitlebens einen etwas seltsamen Gang behalten.

Schon in den früheren Büchern hat sich angedeutet, dass in jeder Figur aus Helfers Familie eine Romanauskopplung steckt. Bedeutungsvolles findet Helfer im Großen wie im Kleinen. Als Kind legte Richard sich etwa gerne Blindschleichen um den Arm, später hatte er einen Hund und teilte sich mit ihm Eierspeise und Bett. Er war Schriftsetzer und malte leidenschaftlich gerne. Mit seinem lockigen Haar war Richard hübsch, hatte aber keinen Sinn für Mode. Doch nicht daher, sondern aus Vergesslichkeit trug er nie Unterhosen. Oft flunkerte er, kam bei "Geschichten vom Hundertsten ins Tausendste". Kurz: "Außer seinen Geschichten hatte mein Bruder nicht viel zu bieten." Mit 30 Jahren nahm er sich letztlich das Leben. So weit die Grundierung.

Wie die Jungfrau zum Kind

Zentral wird in Löwenherz eine andere Begebenheit: Eines Sommers findet der Nichtschwimmer am Bodensee eine alte Badewanne, mit der er hinausfährt. Er geht über Bord, eine junge Frau rettet ihn. Viel macht er sich aus ihren Flirtversuchen kaum, denn Sex interessiert ihn nicht: "zu wenig Überraschung". Aber Kitti sucht einen Vater oder zumindest einen Aufpasser für ihre Kinder. Bis zum Abschied hat sie seine Adresse erfragt und Tochter Putzi instruiert: "Gib dem Papa ein Bussi". Kurz darauf überlässt die Mutter dem Verdutzten Putzi für einige Wochen zur Aufsicht.

Er ist erst um die 20 Jahre alt. Doch wird daraus ohne rechtliche Grundlage und gegen alle Bedenken der Familie eine rührende Vater-Tochter-Geschichte. "Schauen wir", wischt er Fragen weg. Richard bringt Putzi das Lesen bei, nimmt sie zur Arbeit mit. Allmählich passt die gesamte Familie auf sie auf. Doch als ihn 1978 eine Wirtschaftsanwältin heiratet (zwei "wunderliche" Menschen hätten einander gefunden, meint die Familie) und jene Putzi adoptieren will, zerbricht das Glück.

Die Autorin ist – wie schon in Die Bagage und Vati – als Ich präsent. Sie spart ihre eigene Geschichte wieder nicht aus. Weder wenn sie sich mit Freude daran erinnert, wie sie und ihre Schwester darum wetteiferten, den Bruder im Kinderwagen spazieren zu fahren, noch mit Schrecken daran zurückdenkt, wie er ihr von der Wickelkommode fiel. Mit einer Glühbirne, die sie über die Kante schubste, erprobte die kleine Monika daraufhin, wie groß der Schaden beim Bruder sein könnte. Löwenherz umfasst aber auch die Zeit, als Helfer ihren ersten Mann mit Michael Köhlmeier betrog. "Weißt du keine Rettung mehr für uns?", fragte der Gatte sie. Sie wollte keine wissen. Auch das sind rührende Episoden. Köhlmeier und Richard werden nun enge Freunde.

Komisch, heimelig, rührend

Hoch komisch dagegen die Szene, wie die Schwestern, die nach dem Tod der Mutter bei der Tante Kathe in Bregenz aufwachsen, Bruder Richard bei Kathes feinerer Schwester Irma besuchen wollen. Kathe will Irma nämlich nicht begegnen. Am Tag davor fährt sie deshalb heimlich mit den Mädchen nach Feldkirch, und sie müssen den 45-minütigen Weg vom Bahnhof zur Tante für morgen, wenn sie allein kommen müssen, auswendig lernen.

Derart heimelig sind die Anekdoten Helfers. Sie füllen die Seiten in einem fast mündlichen, vertraulichen Ton. Schien es in den ersten beiden Büchern um das Exemplarische einer Zeit zu gehen, verschiebt sich dieser Eindruck nun: Statt historischer Dringlichkeit ist es mehr Privatmythologie, die antreibt. Die Sanftheit dabei macht den Reiz auch dieses Buches aus – neben der irrwitzigen Biografie seines sympathischen, seltsamen Helden. (Michael Wurmitzer, 24.1.2022)