In seinem Gastblog plädiert der Psychologe Daniel Witzeling für einen besseren Dialog zum Thema Corona-Maßnahmen.

Bundeskanzler Karl Nehammer will in einen Dialog mit den Bürgern und Bürgerinnen treten. Vor allem mit dem maßnahmen- und besonders mit dem impfkritischen Teil der österreichischen Bevölkerung soll diese Interaktion stattfinden. Sie sollen das Gespräch mit Ärzten ihres Vertrauens suchen.

Dialog ist jedoch keine Einbahnstraße und Ärzte und Ärztinnen ihres Vertrauens finden die besorgten Menschen oft im Internet und dies in verschiedensten Qualitäten und mit unterschiedlichen Meinungen, die nicht unbedingt übereinstimmend mit der Strategie der Bundesregierung sind. Die Selektion des Arztes, der Ärztin des Vertrauens erfolgt nach der eigenen subjektiven Meinung und Intuition und nicht nach den Vorstellungen des neuen Kanzlers.

Die sozialpsychologische Theorie der kognitiven Dissonanz liefert ein mögliches Simulationsmodell, warum sich manche Österreicherinnen und Österreichern ungern den etablieren Experten zuwenden. Personen versuchen zumeist unangenehme Zustände der Spannung - also Dissonanz - zu meiden. Diese entsteht, wenn zwei Kognitionen, beispielsweise Meinungen, Überzeugungen, Einstellungen und Werthaltungen, im Widerspruch zueinander stehen. Wir streben bewusst und unbewusst aus der Sicht der Dissonanztheorie gerade in unserem Inneren nach einem Gleichgewicht und nach Widerspruchsfreiheit in unserem Glaubens- und Gedankensystem. Daher suchen wir uns in der Folge Experten und Expertinnen, Bekannte, Ärzte und Ärztinnen und vieles mehr, die unsere Sichtweisen eher bestätigen als diese zu stören. Dies gilt jedoch für beide Seiten beim Impfthema.

Wie schaffen wir wieder einen normalisierten gesellschaftlichen Dialog?
Foto: AP/Vadim Ghirda

Mentales Abstandhalten

Die Lösung für ein Aufeinanderzugehen wäre so einfach wie banal. Beide Seiten sollten ihre Standpunkte ehrlich reflektieren und ohne Abwehr versuchen, die Positionen des jeweils anderen Lagers einzunehmen. Das Vorgehen sollte sich an der hegelschen Dialektik der Aufklärung, bestehend aus den Prozessschritten These, Antithese und Synthese, orientieren.

Zuerst wird eine These, sprich ein Leitgedanke aufgestellt, dann folgt die dazugehörige Antithese und am Ende die Synthese. Sogar wenn man sich seiner Ansicht sicher ist, schadet es einem aus fachlicher Perspektive nie, die eigenen Standpunkte nochmals durchzudenken. Vielleicht kommt am Ende bei beiden Konfliktparteien etwas Neues heraus und, ganz optimistisch gedacht, kommen wir gemeinsam einen Schritt in Richtung Veränderung des Pandemiegeschehens weiter. Dazu müssen aber alle bereit sein.

Das gute Miteinander steht auf dem Spiel

Die Realität ist, dass sich die politischen Verantwortungstragenden, Expertinnen und Experten und die Bevölkerung in eine kollektive Eigendynamik, nämlich einer Lagerbildung aus Maßnahmengegnern und Maßnahmenbefürwortern, hinein manövriert haben, die immer schwerer zu lösen ist, wenn nicht alle einen Schritt des Weges miteinander gehen.

Für den Zusammenhalt und nachhaltigen Frieden in unserer Gesellschaft ist die Politik, vom Bundeskanzler bis zum Bundespräsidenten, in der Verantwortung. Sie sollte den verkündeten Dialog mit den Skeptikern von Angesicht zu Angesicht suchen. Das kann, ohne die Erwartung einer zentralen Meinungsänderung bei den Kritikern, einen enormen therapeutischen Effekt erzielen. Dazu gehört aber die Courage, den eigenen Blickwinkel zu verändern. (Daniel Witzeling, 31.1.2022)

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