In seinem Gastblog blickt der Ökonom Valentin Seidler auf neue Studien rund um Auswanderung und Fördermittel.

Auf den ersten Blick klingt es überzeugend, was Bundeskanzler Karl Nehammer bei seiner Antrittsrede forderte: Statt Flüchtlinge oder Migrantinnen und Migranten aus ärmeren Ländern aufzunehmen, solle Österreich doch lieber Mittel der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) in den Herkunftsländern einsetzen, wo sie dazu führten, "dass die Menschen erst gar nicht kommen".

Aber stimmt das denn auch? Nein, im Gegenteil. Führende Fachleute der österreichischen Entwicklungspolitik raten schon seit längerem davon ab, Mittel aus der EZA ausschließlich in einer migrationspolitischen Perspektive zu sehen.1 EZA-Geldflüsse und Zahlen zu internationaler Migration sind gut dokumentiert. Was können wir aus diesen Daten lernen?

Einkommen beeinflusst Auswanderung

Erstens: Die einkommensschwächsten Bevölkerungsschichten wandern nicht aus, sie können es sich schlicht nicht leisten. Die Bereitschaft auszuwandern steigt hingegen in Ländern mit einer wachsenden Mittelschicht, das sind jene mit einer Wirtschaftsleistung zwischen 5.000 und 10.000 US-Dollar pro Kopf.

Aber auch in diesen Ländern können es sich beileibe nicht alle leisten auszuwandern. Umfragen in 99 Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen belegen, dass jene Befragten, die angaben, sich aktiv auf die Auswanderung vorzubereiten, im Schnitt ein um 70 Prozent höheres Einkommen hatten als ihre Landsleute, die nicht auswandern wollten.2 Die paradoxe Erkenntnis: In den ärmsten Ländern steigt die Bereitschaft auszuwandern mit steigendem Einkommen. Also: mehr Geld, mehr Auswanderung.3

Wie ist das zu erklären? In den ärmsten Regionen der Welt können nur wenige Leute jenes Geld ersparen, das sie für eine Auswanderung benötigen. Für jene mit etwas mehr Einkommen (oder Zugang zu Krediten) bietet Migration allerdings eine langfristige Investition in eine bessere Zukunft.

Der Grund liegt auf der Hand. Wer ein sehr geringes Einkommen erwirtschaftet, braucht die wenigen Ersparnisse, um Einkommensschwankungen auszugleichen. Eine Straßenverkäuferin etwa hat Einkommensverluste bei schlechtem Wetter. Dennoch muss sie sich und ihre Familie ernähren. Falls es Ersparnisse gibt, werden diese dafür aufgebraucht. Bauern in ärmeren Ländern kennen das Dilemma: Verdient wird erst, wenn geerntet wurde. Bis dahin müssen die Ersparnisse die Familie ernähren. Durch Unwetter verringerte Ernten werden zu einem lebensbedrohlichen Problem.

In der Mittelschicht ankommen

Ökonominnen und Ökonomen wie die Nobelpreisträgerin Esther Duflo vom Massachusetts Institute of Technology oder der Entwicklungsökonom Debraj Ray von der New York University nehmen an, dass nicht über alle Einkommensschichten hinweg der gleiche Anteil am Einkommen gespart wird. Am meisten sparen jene, die bereits ein kleines regelmäßiges Einkommen haben und darauf hoffen dürfen, einmal in der Mittelschicht anzukommen. Die Ersparnisse bilden hier eine langfristige Investition in eine bessere Zukunft für sich selbst oder in eine bessere Ausbildung für die Kinder. Wird dieser Traum durch Kriege, Umweltkatastrophen oder Korruption bedroht, kann es durchaus sinnvoll sein, stattdessen in eine Zukunft in Europa zu investieren. Das führt zu dem Effekt, dass erfolgreiche EZA indirekt zur Migration beitragen könnte, nämlich dann, wenn in den Empfängerländern das Pro-Kopf-Einkommen steigt und eine Mittelschicht entsteht. Erst ab einem Bruttonationaleinkommen von über 10.000 US-Dollar pro Kopf (das entspricht in etwa der Wirtschaftsleistung des Kosovo) kommt es zur Trendwende, und die Auswanderung nimmt ab.

Bleibt eine zweite Frage: Gibt es auch einen direkten Effekt von Geldflüssen aus dem EZA-Topf auf Migration – unabhängig vom Effekt über die steigenden Einkommen in der Bevölkerung? Die Daten geben hier keine eindeutige Antwort.

Mehr Geld für ärmere Länder senkt Migration nicht. Für viele heißt es überhaupt, ihren Lebensunterhalt abzudecken.
Foto: APA/AFP/HECTOR RETAMAL

Langfristige, aber keine großen Effekte

Paul Clist von der University of East Anglia und Gabriele Restelli von der University of Manchester interessieren sich für die Frage, ob die EZA-Geldflüsse eines einzelnen Landes überhaupt die Migration aus den Empfängerländern in das Geberland beeinflussen können. Ihre Studie aus dem Jahr 2020 kommt zu dem Schluss, dass EZA-Gelder, die Italien zwischen 2002 und 2015 an Auswanderungsländer gezahlt hat, die Zahl der Asylanträge aus diesen Ländern und die Zahl der Aufgriffe von undokumentierten Migrantinnen und Migranten an Italiens Außengrenzen nicht senken konnten. Asylanträge aus Partnerländern stiegen sogar, wenn auch in sehr geringem Ausmaß. Andere Faktoren wie Konflikte in den Herkunftsländern oder das Pro-Kopf-Einkommen beeinflussen Migration offenbar stärker.4

Zu etwas anderen Ergebnissen kommen Jonas Gamso von der Arizona State University und Farhod Yuldashev von der University of Pittsburgh in einer Studie, die EZA-Geldflüsse in 101 Empfängerländer mit niedrigen und mittleren Einkommen der Emigration aus diesen Ländern in die OECD-Staaten gegenüberstellt. Untersucht werden EZA-Geldflüsse und Migrationsströme zwischen 1985 und 2010. Hier zeigt sich, dass EZA-Gelder, die gezielt zur Stärkung der Verwaltung eingesetzt werden oder Projekte von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie etwa NGOs finanzieren, die Migration reduzieren. Der Effekt ist allerdings sehr langfristig und nicht sehr groß, wie sich etwa am Beispiel Algeriens zeigen lässt.

50.000 Menschen wandern jährlich aus Algerien aus. Stiege die Summe aller EZA-Zahlungen mit dem Ziel, die Verwaltung zu stärken, um 2,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr, dann würde dies die Auswanderung aus Algerien nur um etwa 4.900 Personen pro Jahr über eine Periode von zehn Jahren senken.5 Zum Vergleich: Die gesamten öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen Österreichs in alle Empfängerländer betrugen im Jahr 2020 rund 1,1 Milliarden Euro. Fazit: Spezifisch eingesetzte Geldmittel – etwa zum Aufbau einer effektiven und transparenten Verwaltung – reduzieren die Migration aus den Empfängerländern, allerdings zu hohen Kosten.

Wichtige Fördermittel

Das bedeutet natürlich nicht, dass Entwicklungszusammenarbeit nicht wirkt. Ganz im Gegenteil. Die EZA ist fundamental wichtig für Armutsbekämpfung, Gesundheit, Ausbildung, Trinkwasserversorgung oder Katastrophenvorsorge und vieles mehr. Darüber hinaus sind Studien mit aktuellen Daten Momentaufnahmen, die der Vielseitigkeit der EZA und der Vielzahl ihrer Akteure nicht gerecht werden können. Gemessen werden einfach die Geldmittel, die ein Land aus allen Quellen (bilateral und multilateral) erhält, egal wer sie wie umsetzt. Somit können wir nur hoffen, dass sich die neue innenpolitische Betonung der EZA in einer Erhöhung der österreichischen EZA-Gelder niederschlägt, auch wenn die EZA offenbar nicht primär ein Allheilmittel gegen Migration ist. (Valentin Seidler, 25.1.2022)


Valentin Seidler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie der WU Wien. Nach der Promotion im Jahr 2011 folgten Forschungsaufenthalte in Princeton, Warwick und Groningen. Von 2002 bis 2011 arbeitete Seidler für das Rote Kreuz in Osteuropa, Afrika, Asien und in Brüssel.
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