Die Tatsache, dass Sie diesen Text auf Ihrem mobilen Endgerät oder Stand-PC lesen können, verdeutlicht den abstrakten Begriff der kumulativen Kulturprozesse. Menschen sind in der Lage, neu entwickelte Errungenschaften von einer Generation an die nächste weiterzugeben und dadurch auch immer weiterzubringen und im Idealfall zu verbessern. Ob es sich dabei aber um eine Fähigkeit handelt, über die nur Menschen verfügen, ist umstritten. Wobei viele Forschende davon ausgehen, dass es tendenziell nicht eine spezifische Eigenschaft ist, die uns von anderen Tieren abhebt, sondern die besonders starke Ausprägung verschiedener Eigenschaften, die einzeln so ähnlich auch bei anderen Lebewesen vorkommen.

Der Primatologe und Neurobiologe Robert Sapolsky referiert bei einer Universitätsabschlussfeier darüber, inwiefern Menschen einzigartig sind.
Stanford

Ein neues Puzzlestück in der Frage, ob und wie Menschenaffen Kulturpraktiken entwickeln, liefert die Primatologin und Anthropologin Kathelijne Koops von der Universität Zürich. Gemeinsam mit ihrem Forschungsteam beobachtete sie wildlebende Schimpansen im westafrikanischen Land Guinea: In den Wäldern der Nimba-Bergkette analysierten sie, wie eine Population auf präsentierte Nüsse und Steine als Knackwerkzeug reagiert.

Unterschiedliche Nussknacker

Prinzipiell sind Schimpansen (und auch andere Tiere) bekannt dafür, Werkzeuge gebrauchen zu können. Und es gibt regionale Unterschiede: Gemeinschaften, die in der Nähe der Nimba-Schimpansen leben, benutzen regelmäßig Steine zum Knacken von Nüssen, etwa die Bossou-Gruppe, die in sechs Kilometern Entfernung beheimatet ist. Doch warum tun es die Tiere in den Nimba-Wäldern nicht, und was bräuchte es, um sie dazu zu bewegen?

In den Wäldern nahe der guineischen Ortschaft Bossou leben Schimpansen, die Steine benutzen, um Nüsse zu knacken. Ihre Nachbarn haben daran offenbar kein Interesse.
Foto: Kathelijne Koops, UZH

Nachdem den Primaten Nüsse in geknackter und ungeknackter Form sowie Steine als Werkzeug bereitgestellt wurden, begann die Wartezeit. Mithilfe von Kamerafallen beobachtete die Forschungsgruppe über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr, ob ein Nimba-Schimpanse auf die Idee kommt, selbst Nüsse zu knacken, wie sie im Fachmagazin "Nature Human Behaviour" berichtet.

Jahreszeiten und Genetik

Doch dies schien nicht zu reichen, um eine Innovation zu provozieren. "Obwohl sich die Schimpansen zunächst durchaus für die Nüsse und Werkzeuge interessierten, verloren sie relativ schnell das Interesse und widmeten sich wieder der Fellpflege ihrer Artgenossen", sagte Koops der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Von 35 Schimpansen-Untergruppen, die den präsentierten Nüssen "ausgesetzt" waren, nahmen elf Grüppchen Nüsse und Steine näher unter die Lupe. Ein Schimpansenweibchen aß eine danebenliegende Frucht, die Nüsse wurden jedoch nicht angerührt, geschweige denn frisch geknackt.

Da das Experiment einen längeren Zeitraum abdeckte, konnte das Team ausschließen, dass das Zugreifen oder mangelndes Interesse daran abhängig ist von bestimmten anderen Nahrungsmitteln wie Früchten, Blättern und Ameisen, die saisonal unterschiedlich verfügbar sind. Außerdem sei es unwahrscheinlich, dass andere Affengruppen eine genetische Grundlage für einen Vorteil hätten, weil Nimba- und Bossou-Schimpansen eng verwandt sind und erst seit kurzer Zeit in getrennten Populationen ohne genetischen Austausch leben, schreibt die Forschungsgruppe.

Ausgestorbene Praktik

Ihrer Vermutung nach hat der Unterschied im Werkzeuggebrauch eine andere Ursache. In den Wäldern der Nimba-Berge gibt es nämlich weniger Nüsse. Das Verhalten könnte bei ihnen also sozusagen "ausgestorben" sein, weil es mittlerweile weniger nützlich ist und daher irgendwann nicht mehr an andere Individuen (und Generationen) dieser Gruppe weitergegeben wurde. Dies spreche aber wiederum dafür, dass kumulative Kulturprozesse unter Schimpansen eine Rolle spielen – wenn das Ergebnis einen Nutzen hat.

Und obwohl sich Schimpansen Techniken abschauen können, ist es für sie schwieriger, bestehende Praktiken weiterzuentwickeln. Sie sind zwar soziale Wesen, können auch mit Lauten kommunizieren und sogar Muster in Sprachkonstruktionen erkennen, aber bei weitem nicht so detailliert wie Menschen. Das ermöglichte unserer Spezies evolutionär und historisch ganz andere Möglichkeiten – mit all ihren Vor- und Nachteilen. (sic, 24.1.2022)