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Am Wochenende hielten Gegner des Impfpasses in Paris eine Demo ab.

Foto: Reuters/GONZALO FUENTES

Ein französischer Abgeordneter erhielt eine Voodoo-Puppe mit ausgestochenen Augen zugeschickt, ein anderer eine Gewehrkugel. Ein Dritter las per Mail Folgendes: "Du wirst öffentlich enthauptet, dein Blut wird den Asphalt beflecken, dein Kopf wird im Rinnstein enden. Die Gesundheitsdiktatur wird noch böse enden."

Am Wochenende war dann der Abgeordnete Romain Grau an der Reihe, auch er Mitglied von Emmanuel Macrons Partei La République en marche (LRM). Als mehrere hundert echauffierte Impfgegner zu seinem Büro in Perpignan zogen, stellte er sich mutig der Diskussion. Die Demonstranten wollten aber nicht diskutieren. Die meisten schrien auf ihn ein: "Hast du für den Impfpass gestimmt? Ja, du hast für den Impfpass gestimmt." Einer versetzte dem Abgeordneten einen Kinnhaken. Ein Nachbar, der sich dazwischenstellen wollte, erhielt eine Ohrfeige. Schimpfwörter prasselten auf Grau nieder, eine Scheibe ging in Brüche. Einer schrie "à mort!" – in etwa: "Tötet ihn!"

Der Zeitpunkt der Attacke ist kein Zufall: Am Montag ist in Frankreich der neue Impfpass in Kraft getreten. Die Mehrheit der Nationalversammlung, angeführt von den LRM-Abgeordneten, stimmte nach mehrtägigen Debatten dafür. Der Pass ersetzt das weniger strikte Gesundheitszertifikat und macht eine Impfbestätigung für das Betreten von Restaurants, Kinos und dergleichen obligatorisch.

Letzte versöhnliche Geste

Premierminister Jean Castex versprach in einer letzten versöhnlichen Geste, dass Ungeimpfte den Pass auch beziehen könnten, wenn sie bis Mitte Februar eine erste Impfung vorgenommen hätten. Immerhin 800.000 Franzosen haben sich seit Jahreswechsel erstmals impfen lassen. Doch zehn Millionen weigern sich weiter – gegenüber 52 Millionen Erstgeimpften im Land.

Am Samstag gingen landesweit weniger als 40.000 Impfgegner auf die Straße, was für Frankreich eine schwache Mobilisierung bedeutet. Doch die verbleibenden "No vax", die sich vom öffentlichen Leben ausgeschlossen fühlen, werden zunehmend rabiat, ja gewalttätig. Die aus dem Ruder laufenden Demonstrationszüge zum Wohnsitz oder Büro von LRM-Abgeordneten mehren sich.

Stéphane Claireaux wurde minutenlang mit Algen und Seetang beworfen. Jean-Marc Zulesi erhielt vor der Abstimmung die Drohung: "Ich bin bis zum Hals bewaffnet. Passen Sie gut auf, wie Sie abstimmen; verwechseln Sie nicht die Abstimmungsknöpfe." Jacqueline Dubois fand ihr Auto ausgebrannt vor. Pascal Bois' Wagen wurde mitsamt der Garage in Brand gesteckt.

Anlaufstelle geschaffen

Die Nationalversammlung hat eine Ansprechperson bestimmt, die attackierte Abgeordnete berät. Innenminister Gérald Darmanin lässt deren Wohnorte überwachen. Ihm zufolge gab es seit vergangenem Sommer 500 Attacken auf Abgeordnete. In 150 Fällen erstatteten die Opfer Anzeige. Marie-Christine Verdier-Jouclas, die nach eigenen Angaben schon als "Hure", "Schlampe" oder "Nazi" tituliert wurde, erklärte, sie lasse sich in ihrer Arbeit nicht beirren. "Aber es ist hart", fügte sie an. "Man gewöhnt sich nie daran."

Der öffentliche Aufschrei hält sich allerdings in Grenzen. Kleinbürgerliche Pöbeleien haben in Frankreich Tradition. Schon bei den Gelbwesten-Protesten vor drei Jahren hatte sich gezeigt, dass die Hemmschwelle generell sinkt. Präsident Emmanuel Macron hat zudem selbst Öl ins Feuer gegossen, als er Anfang Jänner erklärte, er wolle die Ungeimpften "emmerder" – freundlich gesagt "nerven". Oft der Arroganz bezichtigt, bewirkt der Staatschef bei vielen Bürgern auffallend abfällige, wenn nicht hasserfüllte Reaktionen.

Darüber täuscht auch sein Vorsprung in den Umfragen für die anstehende Präsidentschaftswahl nicht hinweg. Bei Auftritten hat er selber schon eine Ohrfeige oder Eierwürfe kassiert. Normalerweise schützt ihn seine sakrosankte Präsidialfunktion. Anders seine Abgeordneten. Wenn die Impfgegner auf sie losgehen, meinen sie wohl Macron. (Stefan Brändle aus Paris, 24.1.2022)