Stellen Sie sich vor, Sie genießen ein Abendessen im französischen Lyon – und bummeln vormittags bereits durch Moskau. Jetzt stellen Sie sich auch noch vor, dass Sie für diesen Luxus in kein Flugzeug steigen müssen und Ihnen die Fahrten zum und vom Flughafen erspart bleiben. Klingt utopisch? Ist es auch – zumindest im Moment. Doch genau auf dieses Gedankenexperiment hat sich das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) eingelassen und errechnet, welche Vorteile ein massiver Bahnausbau in Europa hätte. Würde die Idee umgesetzt werden, läge Moskau nur rund zwölf Zugstunden von Lyon entfernt.

Für Passagiere seien vor allem die dazwischenliegenden Distanzen von bis zu 1000 Kilometern attraktiv, sie könnten durch Hochgeschwindigkeitszüge gut überbrückt werden, argumentierten die Autoren. Der Umstieg auf die Schiene würde zudem Emissionen einsparen.

Von Paris nach Berlin

Wie viel genau, haben sich die Wissenschafter anhand der vorgeschlagenen Kernstrecke zwischen Lyon und Moskau errechnet. Würde diese realisiert werden, könnte der CO2-Ausstoß über die angenommene Lebensdauer von 60 Jahren in etwa um so viel reduziert werden, wie die Niederlande oder Polen in einem Jahr ausstoßen, heißt es in der Studie. Emissionen, die bei Bau, Betrieb und Wartung anfallen, wurden hierbei bereits gegengerechnet. "Auch wenn das nicht nach viel klingt, haben wir uns nur den Effekt der Verlagerung des Passagierverkehrs vom Flugzeug auf die Schiene angesehen", sagt Mario Holzner, WIIW-Direktor und Co-Studienautor. "Damit wird man das Weltklima nicht retten – aber es ist auch nicht so wenig." Würde man auch den Güterverkehr auf die Schiene verlagern, fiele die CO2-Reduktion etwa doppelt so hoch aus, schätzt das Institut. Dieser Aspekt soll in einer weiteren Untersuchung beleuchtet werden.

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Schnellzugverbindungen unter könnten europäische Metropolen auf Gleisen vernetzen.
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In der Studie, die in Zusammenarbeit mit der Central European University (CEU) erstellt wurde, gehen die Autoren von einem weitreichenden Umstieg des Passagieraufkommens vom Flugzeug auf die angedachten Schnellzüge aus. Attraktiv wären laut Holzner vor allem zentrale Routen wie Paris–Berlin.

Teures Unterfangen

Günstig wäre das Unterfangen nicht: Die Institute beziffern die Baukosten für die Strecke Lyon–Moskau mit rund 200 Milliarden Euro – bei einer Bauzeit von mindestens zehn Jahren. Für die angedachten Schnellgeschwindigkeitszüge müsste eine neue Infrastruktur gebaut werden, sagt Holzner. Man könnte jedoch den Raum nützen, auf dem bereits Schienen existieren. "Aufgeteilt auf zehn Jahre relativiert sich die auf den ersten Blick doch beträchtliche Summe, zumal das gerade einmal 1,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der EU sind und real momentan Negativzinsen auf entsprechende Anleihen anfielen."

In China gibt es bereits einige Schnellbahnverbindungen.
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Dass das Projekt tatsächlich so umgesetzt wird, ist nicht besonders wahrscheinlich. Nichtsdestotrotz gibt es auch auf europäischer Ebene durchaus Überlegungen, den Bahnverkehr weiter auszubauen. Immerhin soll die Union bis 2050 klimaneutral werden – ohne eine Dekarbonisierung im Verkehrssektor wird das nicht möglich sein. Doch woran scheitern größer angelegte Projekte?

"Die Frage ist, wie man über die Grenzen hinwegkommt", sagt Holzner. Beispiele wie der Brennerbasistunnel würden die Schwierigkeiten bei überstaatlichen Projekten verdeutlichen. "Für den Ausbau gibt es zu wenig Interesse bei den nationalen Betreibern." Das betreffe nicht nur Verbindungen, sondern auch die Möglichkeit, durchgehende Fahrscheine zu kaufen: Während Tickets verschiedener Fluggesellschaften online einfach kombiniert werden können, fehlt ein solches System für den Bahnverkehr nach wie vor. "Tickets von hier bis nach Lissabon zu kaufen – das sind Sachen, die technisch möglich wären, der politische Wille scheint aber zu fehlen."

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Dennoch gibt es Lichtblicke, meint der Ökonom, etwa die Rail Baltica – eine sich in Bau befindliche Bahnverbindung von Warschau über Kaunas mit Abzweigung nach Vilnius und weiter nach Riga oder Tallinn. Beispiele für riesige Schnellzugverbindungen gibt es auch in China. An dessen Schienennetz hat sich das Institut in einer vorangegangenen Studie angelehnt. Dabei malte sich das WIIW erstmals jene "Europäische Seidenstraße" aus, die den Kontinent auf eine neue Art vernetzt. Eine Bahnstrecke von Lissabon bis Uralsk an der russisch-kasachischen Grenze und eine auf der Südroute von Mailand – unter anderem über Wien – bis nach Wolgograd und Baku (siehe Grafik oben). Insgesamt 11.000 Kilometer an Gleisen, quer durch Europa und weiter in den Osten. Ein solcher "Big Push" in der Infrastruktur würde nicht nur dem Klima helfen, sondern auch Wachstum und Beschäftigung ankurbeln, sind sich die Wissenschafter sicher.

Wenn überhaupt, ist all das noch Zukunftsmusik. Damit eine solche Transformation des Verkehrssektors auch gelingt, müsste an vielen Schrauben gedreht werden – allem voran müsste die Bahn auch preislich mit dem Billigflugsektor mithalten können. (Nora Laufer, 25.1.2022)