Der Theologe, Jesuit und Publizist Andreas R. Batlogg kritisiert in seinem Gastkommentar das "Multisystemversagen der Kirchenleitung über Jahrzehnte hinweg" und fordert volle Aufklärung von Missbrauchsskandalen.

1893 Seiten: So umfangreich ist das Gutachten der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Es geht den Jahren 1945 bis 2019 nach. Fehlverhalten, Versagen, Versäumnisse: Alles dokumentiert. Schonungslos. Brisant dabei: Joseph Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Reinhard Marx wurde 2008 von Trier nach München berufen, er ist ein enger Mitarbeiter von Papst Franziskus.

Marx will sich noch Zeit lassen, bis er am 27. Jänner eine Stellungnahme und Bewertung abgibt. Dass er bei der Präsentation nicht dabei war, war für mich ein Fehler. Der Generalvikar und die Amtschefin waren da. Aber als das Gutachten übergeben wurde, schickte er seine Kollegin vor: ein fatal wirkendes Bild, eine klerikale Fehlleistung!

Im roten Schuber, mehr als 1500 Seiten dick: Das Münchner Missbrauchsgutachten erschüttert die katholische Kirche. Die Kirchenaustrittszahlen werden wohl in die Höhe schnellen – wieder einmal.
Foto: EPA/Sven Hoppe

Eingehend studieren will auch Ex-Papst Benedikt XVI. den Text. Dem WSW-Gutachten liegt seine 82 Seiten starke Stellungnahme bei. Überzeugt hat sie nicht. Etliche seiner Angaben bezeichneten die Rechtsanwälte als "wenig glaubwürdig". Benedikt steht jetzt wie ein überführter Lügner da. Er flüchtete sich in kirchenrechtliche Subtilitäten. Und löste damit neue Empörung aus. Am 24. Jänner hat er die Aussage, er sei am 15. Jänner 1980 bei einer Ordinariatssitzung – bei der über einen pädophilen Priester gesprochen wurde –, nicht dabei gewesen, korrigiert. Ein "Missverständnis"?

"Das chronische Desinteresse gegenüber Betroffenen und der kalte Pragmatismus erschrecken. Klerikalismus, Korpsgeist, Institutionenschutz: All das waren begünstigende Faktoren. Das System schützte sich selbst."

Wie viele Gutachten, sagt Anwalt Ulrich Wastl, muss es noch geben, bis Kirchenleitungen einsehen, dass das nicht mehr geht: abstreiten, leugnen, klein- und schönreden, vertuschen, relativieren? Alles auf Kosten der Betroffenen! Von denen ist dabei nie die Rede. Nur vom Image der Kirche, die als "heilig" und "makellos" dastehen soll. War sie’s je?

Das erklärt aber, warum jahrzehntelang gemauert wurde: Da brechen mit großem Karacho Kirchenbilder zusammen! Kirche besteht aus Menschen. Die sind fehlbar. Widersprüchlich. Sündig. Auch Priester, Bischöfe, Kardinäle. Sogar Päpste. Für diese Erkenntnis müssen wir uns nicht ins Mittelalter begeben oder über Renaissancepäpste mokieren.

Kalter Pragmatismus

Das Münchner Missbrauchsgutachten offenbart ein Multisystemversagen der Kirchenleitung über Jahrzehnte hinweg. Christiane Florin vom Deutschlandfunk kreierte einen Neologismus: "Verantwortungsverdunstungsbetriebsleitung". Das chronische Desinteresse gegenüber Betroffenen und der kalte Pragmatismus erschrecken. Klerikalismus, Korpsgeist, Institutionenschutz: All das waren begünstigende Faktoren. Das System schützte sich selbst.

Wer es immer noch nicht kapiert hat, dass es bei sexuellem und geistlichem Missbrauch nicht nur um individuelles Versagen geht, sollte endlich aufwachen. Machtkontrolle, Gewaltenteilung – alles Themen des Synodalen Weges in Deutschland. Der Corona-bedingt ausgebremst wurde. Der aber an diesen Faktoren dranbleibt, auch gegen heftigen innerkirchlichen Widerstand. Die Bischöfe haben die Deutungshoheit längst verloren. Papst Franziskus will Hirten. Echte Seelsorger. Klerikale Karrieristen braucht es nicht (mehr). Es braucht Herzensmenschen. Und Frauen müssen noch stärker in Führungspositionen! Das verändert einfach das Klima – da und dort im Vatikan bereits zu sehen. Männerburgen und -welten müssen aufgesprengt werden!

Vor einer "Zeitenwende"

Schock und Scham, Wuterklärungen: Die Öffentlichkeit kann die Entschuldigungsrituale von Bischöfen nicht mehr hören. Hüten müssen wir uns aber innerkirchlich vor einer "Insolvenzrhetorik" (© Annette Schavan). Ja, die Kirche steht vor einer "Zeitenwende".

Abgeben muss die Kirche die Kontrolle über die Aufarbeitung. Wahrheitskommissionen gibt es in unseren Breitengraden nicht. In Österreich gibt es immerhin die "Klasnic-Kommission". Aufarbeitung ist das eine. Prävention das andere. Vieles kann, vieles muss optimiert werden. Es braucht unabhängige Ombudsstellen. Es braucht geschützte Räume, in denen sich Menschen öffnen können, denen Schlimmes passiert ist. Was juristisch verjährt ist, ist noch lange nicht moralisch gerechtfertigt. Schlecht beraten (gewesen), wenn überhaupt, wird Benedikt XVI., demnächst 95, um eine weitere Stellungnahme nicht herumkommen. Er muss sich entschuldigen. Seine moralische Autorität ist nachhaltig beschädigt.

Wie gehe ich heute mit Fehlern der Vergangenheit um? Das ist die alles beherrschende Frage. Kardinal Marx machte das Thema erst 2018 zur Chefsache. Davor delegierte er. Diesen Fehler – und andere ihm nachgewiesene – sieht er ein. Seine Wahrnehmung von Kirche hat sich verändert. Ich nehme ihm das ab. Es war ein Lernprozess. Wie bei Papst Franziskus. Wie auch bei Kardinal Christoph Schönborn. Aber die Menschen wollen Ergebnisse sehen. Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen heißt nicht nur, über "Anerkennung" und "Entschädigung" nachzudenken. Sie überhaupt wahrzunehmen: Selbst das ist vielen nicht möglich, die ironisierend darauf verweisen, Missbrauch gebe es überall. Ist die "moralische Fallhöhe" in der Kirche nicht eine andere als in einem Sportverein?

Verlorenes Vertrauen

Nur eine jesuanische Kirche ist eine glaubwürdige Kirche. Sonst verdunstet ihre Botschaft im Weihrauch ihrer Rituale: Sie kreist um sich selbst. Wenn der Kirchenrechtler Helmuth Pree "Rechtskultur statt Empörungskultur" verlangt und auf die Unschuldsvermutung verweist, ist das schon wieder eine akademische Verteidigungsstrategie!

Wer sich jetzt schützend vor Benedikt stellt, brüskiert erneut diejenigen, die der Kirche und ihren Vertretern einmal vertraut haben oder wieder vertrauen lernen wollen, obwohl ihr Leid unbeachtet blieb. Verbrechen, die ungesühnt und unbestraft bleiben, hinterlassen Spuren. Lebenslang. Heilung und Versöhnung: Anbefehlen lassen sie sich nicht. Christen können darum beten. (Andreas R.Batlogg, 25.1.2022)